Intolerantes Familienbild

Christine Demele

Zwei tendenziöse Artikel zum Thema, die mich nach der Lektüre mit einem unguten Gefühl zurücklassen. Ich hätte mir eine reflektierte, weltoffene und tolerante Sicht auf dieses Thema gewünscht. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass im Sinne einer von den Autorinnen Helena von Hutten und Noémi Schrodt vorgegebenen »selbstbestimmten Mutterschaft« Entscheidungen in Fragen der Lebensgestaltung und des Familienmodells völlig individuell und (wert-)frei getroffen werden können. Das gilt für Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen, genauso wie für die in Voll- oder Teilzeit arbeitenden berufstätigen Mütter, die auf einen Ganztags- oder Krippenplatz angewiesen sind.

Auch wenn es nicht in das Familienbild der Autorinnen passt, gibt es Mütter, die sich nicht nur über ihre Familie definieren und für die zu einem erfüllten Leben auch berufliche Selbstverwirklichung gehört. Und unter diesen gibt es Frauen, die sich auf der Suche nach einem Betreuungsplatz für ihre Kinder ganz bewusst für eine waldorfpädagogische Einrichtung entscheiden und heilfroh sind, wenn sie einen der gefragten und meistens zu wenigen Plätze erhalten. Diese Mütter würden für ihren Lebensentwurf unter Umständen abgestraft werden, wenn die Ganztags- und Krippenplätze in Waldorfeinrichtungen nur noch »Alleinerziehenden oder Geringverdienern« zustehen würden, wie es Helena von Hutten und Noémi Schrodt vorschlagen, die damit andersdenkenden Frauen geradezu von oben herab das Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft absprechen, als würde dieses nur für ihr selbsternanntes Idealbild der »Vollzeitmutter« gelten.

Müssen wir uns gegenseitig ein schlechtes Gewissen machen?

Unter dem Feigenblatt der angeblichen Qualitätssicherung sollen hier Eltern zum »richtigen« Familienleben umerzogen werden, und da sie offenbar (vielleicht ja zu Recht) unbelehrbar sind, werden restriktive Maßnahmen wie die Verweigerung von Ganztags- und Krippenplätzen gefordert. »Im Sinne des Kindes« schreiben sich die Autorinnen auf die Fahne. Aber Rücksichtnahme auf das Wohl des Kindes wäre es wohl kaum, einem Kind den Waldorf-Krippenplatz zu entziehen, weil seine Mutter so »egoistisch« ist, einen Beruf auszuüben. Gerade die Waldorfkrippen sind doch Ausweis und Maßstab für qualitätsvolle Pädagogik im Kleinkindalter. Die individuelle, liebevolle Zuwendung der geduldigen Erzieherinnen mit ihrer waldorfpädagogischen Erfahrung, die Harmonie und Ruhe ausstrahlenden Räume, der bessere Personalschlüssel und anderes mehr, das sind Gründe, aus denen sich viele Eltern, nicht nur mit Waldorf-Hintergrund, keinen besseren Krippenplatz für ihr Kind vorstellen können. (Der Hinweis auf die angeblich ausreichenden anderen zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze dürfte für viele Eltern übrigens wie Hohn klingen.)

Der Erkenntnisgewinn aus der Lektüre der beiden Artikel liegt für mich darin, dass sich ganz offenbar nicht nur Mütter, die ihre Kinder ganztags betreuen lassen, ständigem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen, sondern auch die Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen oder »nur« halbtags in den Kindergarten geben. Kann es denn sein, dass wir Mütter uns gegenseitig ein schlechtes Gewissen machen?

Wir sollten zum einen auf uns selbst vertrauen, dass wir es im Großen und Ganzen schon richtig machen. Gleichzeitig aber sollten wir anderen Müttern Vertrauen entgegenbringen und ihre möglicherweise anderen Lebensentwürfe als ebenso berechtigt anerkennen. Respekt und Toleranz vorausgesetzt, wäre das selbstbestimmte und liebevolle Elternsein dann der gemeinsame Nenner, auf den sich die verschiedenen Sichtweisen und Familienmodelle verständigen können.

Zur Autorin: Dr. Christine Demele, Kunsthistorikerin und Mutter von zwei Kindern, hat selbst den Waldorfkindergarten in Kassel und die Waldorfschulen in Kassel und Heidelberg besucht.