Rudolf Steiners schönstes Geburtstagsgeschenk?

Lars Grünewald, Eugen Riesterer, Tom Singer-Carpenter

Der Artikel »Waldorf-Hochschulen sind ein Kulturimpuls« (Heft 12/2010) erläutert, dass die Hochschulbewegung der Waldorfschulen laut Berichten aus den Lehrerbildungsstätten einen wichtigen Kulturimpuls darstellten und eine qualitativ hochstehende Lehrerausbildung gewährleisteten. Die Anerkennung der grundständigen Ausbildung zum Waldorflehrer in ihrer Wissenschaftlichkeit durch die Akkreditierung sei – so wird Richard Landl zitiert – das »schönste Geburtstagsgeschenk für Rudolf Steiner«. Diese Ausführungen werfen einige Fragen auf: Was ist überhaupt Wissenschaftlichkeit? Wer verfügt über die Kompetenz, die Wissenschaftlichkeit einer Ausbildung anzuerkennen, und woran ist diese Kompetenz erkennbar? Ist es Rudolf Steiner wirklich um die Anerkennung der Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit gegangen? Hat die Akkreditierung der Lehrerausbildung überhaupt noch etwas mit den Intentionen Steiners zu tun?

Steiner hat die gesamte Anthroposophie auf der Grundlage eines neuen (an Goethe orientierten) Wissenschaftsbegriffes errichtet, wie er ihn zum Beispiel in seiner Dissertation »Wahrheit und Wissenschaft« entwickelte. Er hat dies getan, weil er der Auffassung war, dass der herkömmliche, an den Hochschulen vorausgesetzte und gelehrte Wissenschaftsbegriff erstens vollkommen falsch (also unwissenschaftlich) und zweitens in seinen gesellschaftlichen Folgen ruinös sei. Das vom Staat genormte Akkreditierungsverfahren legt aber genau diesen alten, von Steiner für verfehlt gehaltenen Wissenschaftsbegriff zugrunde. Indem sich die Lehrerausbildungsstätten widerspruchslos den vom Staat vorgegebenen Normen anpassen, geben sie ihre eigene Identität auf und machen sich zu Sklaven desjenigen Wissenschaftsbegriffes, zu dessen Überwindung die Anthroposophie gerade angetreten ist. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Etablierung eines neuen Wissenschaftsbegriffes und einer neuen Pädagogik nicht darin bestehen kann, von Vertretern der entgegengesetzten Auffassung als wissenschaftlich anerkannt zu werden. Denn das machte ja nicht mehr die Wahrheit, sondern die Anerkennung zum entscheidenden Kriterium. Beides hat aber nichts miteinander zu tun.

Auf der Grundlage des traditionellen, von Steiner für unwissenschaftlich gehaltenen Wissenschaftsbegriffes formuliert der Staat in seinen Bedingungen für die Akkreditierung der Lehrerausbildung diejenigen Kriterien, deren Umsetzung garantieren soll, dass die Schüler die staatlichen Forderungen erfüllen und zu brauchbaren Staatsdienern werden: »Unser Schulwesen trägt ganz besonders die Charakterzüge an sich, die ein Abbild sind der niedergehenden Strömungen im Kulturleben der gegenwärtigen Menschheit. Die neueren Staatsgebilde sind mit ihrer sozialen Struktur den Anforderungen des Lebens nicht gefolgt. ... Sie haben diese Rückständigkeit auch dem Schulwesen aufgedrückt, das sie ... ganz in Abhängigkeit von sich gebracht haben. Die Schule auf allen ihren Stufen bildet die Menschen so aus, wie sie der Staat für die Leistungen braucht, die er für notwendig hält. In den Einrichtungen der Schulen spiegeln sich die Bedürfnisse des Staates« (Steiner, GA 24, S. 36).

Genau diese Tendenz will die von Steiner begründete Pädagogik umkehren: »Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen« (ebd., S. 37).

Steiners Konsequenz ist unmissverständlich: »Das Heil ... wird erst gefunden werden, wenn vom Lehrer der untersten Schulstufen an bis hinauf zu dem Unterrichtenden an den Hochschulen das gesamte Unterrichts- und Erziehungswesen und das mit ihm zusammenhängende Geistesleben in Selbstverwaltung gestellt ist – nicht in die Verwaltung des Staates! Das gehört zu den großen Abrechnungen, die heute gepflogen werden müssen« (GA 333, 15.11.1919).

Es fehle – so Steiner – die richtige praktische Gesinnung, »wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat – mit allen Kräften einzutreten, dass der Staat die Schule loslässt. Wenn Sie nicht den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat zu erstreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz. Denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben« (GA 337b, 12.10.1920). Statt die Forderung Steiners nach der Loslösung des Bildungswesens vom Staat konsequent zu verfolgen, soll jetzt umgekehrt die Lehrerausbildung den vom Staat vorgegebenen Kriterien für Wissenschaftlichkeit angepasst werden. Das Streben nach staatlicher Anerkennung verkehrt aber nachweislich die Intentionen Steiners in deren Gegenteil. Was genau sind die Motive, Rudolf Steiner ein solches »Geburtstagsgeschenk« zu über­reichen?

Hochschulen für Waldorflehrer: Geburtstagsgeschenk für Rudolf Steiner? Eine Antwort von Richard Landl und Peter Lobell