Was haben Kompetenzen und Portfolio in der Waldorfpädagogik zu suchen?

Klaus-Michael Maurer

Für die Waldorfschulen müsste sich mit dieser Wende eigentlich nichts ändern, denn diese Gedanken sind seit Gründung der ersten Waldorfschule vertraut. Warum also sollten wir uns damit beschäftigen? Wozu brauchen wir Kompetenzen oder gar eine Kompetenzdiskussion?

Wie lässt sich der Kompetenzbegriff greifen? Nehmen wir die neuere Definition von Erpenbeck und Rosenstiel, wonach Kompetenzen »Selbstorganisationsdispositionen des gedanklichen und gegenständlichen Handelns« sind. Weiter heißt es: »Kompetenzen schließen Fertigkeiten, Wissen, Qualifikationen ein, lassen sich aber nicht darauf reduzieren. Bei Kompetenzen kommt einfach etwas hinzu, das die Handlungsfähigkeit in offenen, unsicheren, komplexen Situationen erst ermöglicht, beispielsweise selbstverantwortete Regeln, Werte und Normen als ›Ordner‹ des selbstorganisierten Handelns.« Das Zitat macht deutlich, dass der Begriff an sich schwer zu fassen ist, dass es sich aber lohnen kann, die Kernidee aus dem waldorfpädagogischen Ansatz heraus zu betrachten.

»Lernen, um die Welt zu verstehen«

Diese Kernidee ist für mich die, dem Lernen – und das meint jegliches Lernen auch weit über die Schule hinaus – einen anderen Sinn zu geben, nämlich den, dass es uns in die Lage versetzt, aus Erkenntnis situationsgerecht zu handeln.

In den Kinderhandlungen des freien christlichen Religionsunterrichts heißt es: »Wir lernen, um die Welt zu verstehen, wir lernen um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit …«. Das klingt alltäglich, wird aber in Zeiten der technologischen Hyperentwicklung, der Neubesinnung auf die Lebensgrundlagen der Menschen und der deutlich wahrnehmbaren Vereinzelung immer wichtiger.

Frank Schirrmacher spricht in seinem Buch »Payback« von »Ich-Ermüdung«, die durch das zunehmend geforderte Multitasking entsteht, also die »Technik«, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, die eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit fordern. Für Schirrmacher setzt dies schon bei den Jugendlichen ein, die heute spielend-chattend-recherchierend – vielleicht auch Hausaufgaben machend – ihre Nachmittage und Abende vor dem PC und/oder am internetfähigen Handy verbringen. Wenn aber Ich-Ermüdung eintritt, dann hört die Fähigkeit auf, die anderen Menschen so wahr-zu-nehmen, wie sie sind. Geschieht dies bei Jugendlichen, wird das Ich angegriffen, bevor es »geboren« wurde, also vor dem 21. Lebensjahr, bevor es für die Prozesse »frei« wurde, die man als Ich-Prozesse bezeichnen kann.

Aus Erkenntnis handeln

Hier ist unsere ganze pädagogische und menschliche Aufmerksamkeit gefordert, was uns in der Tat dazu bringen sollte, das Lernen neu zu denken. Dann kann der Kompetenzbegriff, auch in der so schwer zu greifenden Form, eine Hilfe sein. Wenn wir mit der Waldorfpädagogik den Menschen in den Mittelpunkt stellen wollen, dann entspricht das dem Kompetenzbegriff recht genau: Wir wollen ihn dazu in die Lage versetzen (befähigen, die Disposition anlegen), jeglicher Situation des Lebens so zu begegnen, dass sie auf angemessene Weise in das Lebensgefüge eingebunden werden kann. Gemeint ist damit eine Form der Lebensführung, die der Maxime Steiners aus der »Philosophie der Freiheit« entspricht: »Aus Erkenntnis handeln.«

Dazu gehören selbstverständlich fachliche Kenntnisse in nahezu allen Bereichen, zumindest das Wissen, wie ich zu fachlichen Kenntnissen komme. Dazu gehören ebenfalls methodische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die der jeweiligen Situation entsprechend angewandt werden können. Dazu gehört ferner ein gewisses Maß an Empathie. Und schließlich gehört dazu auch eine gesunde Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Dass all dies heute deutlich früher in weit größerem Umfang zur Verfügung stehen muss, ist deutlich. Dass dieses Lernen weit über die Schule hinausgeht, auch innerhalb der schulpflichtigen Zeit, ist ebenfalls klar. Dem wird in vielen Bereichen Rechnung getragen: Die Horte und Nachmittagsangebote der Schulen sind mögliche Formen, durch die das individuelle, spielerische Lernen, das früher »auf der Straße« geschah, in den Rahmen der Schule gestellt wird. Der handwerkliche Unterricht, die starke Betonung der künstlerischen Fächer, die Praktika und Jahresarbeiten sind wichtige Beiträge in diesem Prozess.

Portfolio – gemeinsames Lernen von Lehrern und Schülern

Ein möglicher Weg, die Schüler ihre Kompetenzen erkennen zu lassen, ist die Arbeit mit der Individualisierung des Lernprozesses durch den Portfolio-Gedanken. In ihr liegt eine wesentliche Bereicherung der pädagogischen Arbeit, weil sie die individuelle Vielfalt des Lernens von innen ergreift und damit Schülern und Lehrern die Möglichkeit des gemeinsamen Lernens gibt. Schüler und Lehrer können die Verbindung ihres Tuns mit allen Aspekten des Lebens unmittelbar erfahren und im Erspüren ihrer Möglichkeiten und Grenzen der »Ich-Ermüdung« entgehen, ja sogar Ich-Stärkung erfahren, indem der individuelle Kern des Einzelnen sich am Erleben des gemeinsamen Vielfachen entwickelt.

Eine solche Arbeit an und mit der Kompetenzidee kann die Lehrerschaft dazu führen, einander besser wahrzunehmen, miteinander so ins Gespräch zu kommen, dass fachliche und methodische Überschneidungen aktiv genutzt werden (Steiner spricht immer wieder von der Ökonomie des Unterrichts), um den tiefer liegenden Aufgaben im pädagogischen Prozess mehr Aufmerksamkeit schenken zu können. So können die Schüler individueller gefördert, aber auch gefordert werden. Aus einer solchen Arbeit können die Schüler einen individuellen Zugang zu einzelnen Fächern finden, deren Bereiche ihnen im herkömmlichen Unterrichtsgeschehen unerschlossen geblieben wären.

Zum Autor: Klaus-Michael Maurer ist Lehrer für Englisch, Geschichte und freien christlichen Religionsunterricht an der RSS Hamburg- Harburg. Mitglied des Arbeitskreises Zukunft der Abschlüsse des Bundes der Freien Waldorfschulen.

Literatur: John Erpenbeck/Lutz von Rosenstiel (Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. Stuttgart 2007 | Frank Schirrmacher: Payback. München 2009