Gesundheit will gelernt sein. Jan Vagedes im Gespräch

Jan Vagedes

Erziehungskunst | Herr Vagedes, Sie vertreten die Auf­fassung: »Kein Kind wird ›gesund‹ ge­boren ...« Könnten Sie das näher erläutern?

Jan Vagedes | Das ist natürlich eine etwas provokante Formulierung, denn glücklicherweise kommen die meisten Säuglinge gesund zur Welt. Und doch steht jedes Neugeborene am Anfang eines lebenslangen Lernprozesses. Der Mensch ist nicht einfach nur ein komplexes Konstrukt aus Zellen, das nach chemischen und physikalischen Gesetzen funktioniert, sondern eine lebendige Einheit aus Körper, Seele und Geist. Wichtig ist, dass diese drei Bereiche gesund zusammenwirken, und genau das ist gemeint, wenn es um ein lebenslanges Lernen geht. Das Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist ist in den einzelnen Lebens­abschnitten sehr unterschiedlich.

Beim Säugling und Kleinkind ist das Seelisch-Geistige sehr intensiv und eng mit den körperlichen Prozessen verbunden und innerhalb derselben aktiv, was jeder von uns beobachten kann. Freude, Ärger, aber auch Angst zeigen sich beim Säugling und Kleinkind unmittelbar in der Mimik und Gestik, aber auch in organischen Prozessen wie der Verdauung oder der Durchblutung. Umgekehrt drückt es jede Störung auf körperlicher Ebene unmittelbar seelisch aus: So weint und schreit der Säugling bei Verdauungsstörungen ganz ungehemmt. Das Zusammenleben von uns Erwachsenen wäre schwierig, wenn die Verbindung von Seelischem und Körperlichem noch genauso wäre wie bei den Säuglingen ...

EK | Welche Veränderungen macht denn der Mensch beim Älterwerden durch?

JV | Mit zunehmendem Alter löst sich diese unmittelbare Verbindung zwischen Seelisch-Geistigem und Körperlichem mehr und mehr: Beim Jugendlichen zeigen sich die veränderten Bedingungen besonders während der Pubertät, in der vor allem das Seelische eine neue Beziehung zum Körper­lichen herstellt. Beim Erwachsenen und vor allem beim älteren Menschen emanzipiert sich immer mehr das Geistige. Es geht also um den Prozess, selbstständig zu werden, zunächst auf leiblicher, dann auf seelischer und schließlich auf geistiger Ebene.

EK | Mit der Geburt beginnt also ein lebenslanger Lernprozess?

JV | Richtig. Zunächst lernt das Neugeborene, nach und nach auf leiblicher Ebene selbstständig zu werden. Das ist ein vielschichtiger und anspruchsvoller Vorgang: Das Kind lernt, ab der Geburt selbstständig zu atmen und seine Körperwärme zu regulieren. Es lernt, fremde Nahrung in eigene Substanz zu verwandeln und sich allmählich von der Schwerkraft zu emanzipieren, um schließlich frei stehen und gehen zu können. Auch und vor allem findet das Lernen im Bereich des Immunsystems statt. Der Säugling und das Kind müssen lernen, sich in der richtigen Weise von der Außenwelt abzugrenzen und sich der Außenwelt so zu öffnen, dass das Innenmilieu gesund erhalten bleibt. Schließlich ist auch das Einschlafen-Können ein Lernvorgang, der zur zunehmenden Selbstständigkeit dazugehört.

EK | Sie beschreiben die Krankheit als Krise und Chance zugleich …

JV | Der Prozess hin zur Selbstständigkeit ist immer mit Krisen verbunden: Macht ein Kind eine Krise durch – zum Beispiel eine Erkältung – wird sein Immunsystem aktiv und wehrt sich. Hat das Kind die Krankheit aus eigener Kraft überstanden, hat es einen weiteren Schritt in Richtung Selbstständigkeit geschafft: Es hat gelernt, sich noch besser gegen seine Umwelt abzugrenzen, sein Immunsystem hat sich weiter ausgebildet.

Jede Krise, die ein Kind überwindet, gibt ihm neue Stärke. So  gesehen könnte man Gesundheit als die Fähigkeit bezeichnen, Krisen zu überwinden. Medizin und Päda­gogik hängen unmittelbar zusammen; Lehrer und Ärzte müssen zusammenarbeiten und unsere Kinder so stärken, dass sie zunehmend aus eigener Kraft heraus Krisen meistern können.

Dabei dürfen sie natürlich keinem unüberschaubaren Risiko ausgesetzt werden. Das ist die wahre Kunst: das Kind Erfahrungen sammeln zu lassen und ihm doch zugleich Schutz und Sicherheit zu geben. Nicht zuletzt spricht man daher von Erziehungskunst ebenso wie von Heilkunst. Gerade durch eigene Erfahrungen – und dazu können in bestimmtem Umfang auch Krankheiten unterschiedlicher Ausprägung zählen – reift das Kind und kann auf körperlicher Ebene seine Individualität ausbauen.

Mit Absicht spreche ich jedoch von Krankheiten »in bestimmtem Umfang« und »in unterschiedlicher Aus­prägung«: Denn natürlich benötigt ein Kind mit einer schweren Epilepsie Medikamente gegen Krampfanfälle, eines mit einem Diabetes mellitus Typ 1 braucht Insulin und eines mit einer Gehirnhautentzündung das richtige Antibiotikum.

EK | Sie sprechen davon, dass ein Kind seinen Körper zunehmend individualisiert. Wie müssen wir uns das vorstellen?

JV | Vielleicht hilft an dieser Stelle ein Bild, um diese Zusammenhänge etwas deutlicher zu machen: Kommt ein Kind auf die Welt, richten die Eltern ihm ein Zimmer ein, das sie zunächst nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten – ganz in dem Wunsch, dass sich das Kind darin wohl fühlen möge. Wächst das Kind heran, möchte es gerne das eigene Zimmer etwas anders gestaltet haben.

So kommt es, dass bereits Dreijährige das Kinderzimmer kreativ umräumen – zumindest in Teilbereichen. Es wäre ja schlimm, wenn wir eine ganze Kindheit lang genau in der Zimmereinrichtung leben würden, die wir unseren Eltern zu verdanken haben! In bestimmten Phasen werden diese Umbaumaßnahmen besonders intensiv: Manche Jugend­liche räumen ihr Zimmer während der Pubertät alle vierzehn Tage um.

Was wir uns hier auf äußerlich-räumlicher beziehungsweise pädagogischer Ebene angeschaut haben, findet auch auf leiblicher Ebene statt: Im übertragenen Sinn bekommt jedes Kind einen Körper, der sich nach den genetischen Voraussetzungen gestaltet, die von Vater und Mutter mitgegeben werden.

Im Lauf der Zeit kommt es aber immer intensiver zu Prozessen, in denen das Individuelle des Kindes den eigenen Körper zunehmend mitgestaltet und so auch leiblich mehr und mehr zum Vorschein kommt, was sich in der Mimik und Gestik sowie der Gesichtsphysiognomie zeigen kann. Die Umbauvorgänge können dabei in größeren Zyklen verlaufen und ganz schön heftig sein, etwa beim Zahnwechsel oder der Pubertät. Sie können aber auch unscheinbarer verlaufen, zum Beispiel im Rahmen von fieberhaften Infektionskrankheiten.

EK | Was empfehlen Sie, wenn das Kind schwer erkrankt?

JV | Kinderkrankheiten können  auch gefährliche Krisen bedeuten. Sie müssen daher sehr ernst genommen werden. Nehmen wir eine infektiöse Erkrankung mit hohem Fieber. Es kann sein, dass diese Infektionserkrankung das Kind so schwächt, dass man wahrnimmt: Ihm wird die Überwindung der Krankheit aus eigener Kraft nicht gelingen. Im Fall einer schweren bakteriellen Infektion ist es ein Segen, dass wir neben den naturheilkundlichen Medikamenten ein gutes Antibiotikum haben. Und es wäre  verwerflich, dieses dem Kind vorzuenthalten. Der ganzheitliche Ansatz der anthroposophischen Medizin ergänzt die Schulmedizin, er ersetzt sie nicht. Antibiotika sind somit auch ein Bestandteil der anthroposophischen Therapie. Im Umkehrschluss wäre es jedoch falsch, jedem Kind bei jedem Infekt gleich ein Antibiotikum oder Fieberzäpfchen zu geben. Erfreulicherweise wächst in der Öffentlichkeit auch das Bewusstsein dafür, dass es wichtig für den Aufbau des Immunsystems sein kann, gerade fieberhafte Erkrankungen durchzumachen und sie selbst oder mit Unterstützung naturheilkundlicher Medikamente zu überwinden. Zudem wurden in den letzten Jahren einige Studien publiziert, die belegen, dass häufiger Gebrauch beispielsweise von Paracetamol während der Kindheit oder in der Schwangerschaft Asthma oder Neurodermitis begünstigen kann.

EK | Wie ist unter diesen Gesichtspunkten das Verhältnis der anthroposophischen Ärzte zu Impfungen?

JV | Als anthroposophische Kinderärzte sind wir keineswegs Gegner des Impfens! Wir sehen aber eine Erziehung kritisch, die vermeidet, dass es zu einer Auseinandersetzung mit fieberhaften Erkrankungen kommen kann. Letztendlich geht es uns darum, eine gute Mitte zu finden. Wir dürfen weder die Bedeutung dieser leiblichen Veränderungsvorgänge noch die Gefahr bestimmter Kinderkrankheiten unterschätzen.

Entscheidet man sich für eine Impfung gegen die klassischen Kinderkrankheiten, ist eine Pädagogik umso wichtiger, die es den Kindern in anderen Bereichen ermöglicht, ihren Leib zu individualisieren. Letztlich ist diese Verzahnung von Pädagogik und Medizin ein bedeutender und zukunftsweisender Teil des Ansatzes der anthroposophischen Medizin. Man könnte auch sagen, dass es sich dabei um eine Erziehung zur Gesundheit handelt.

In Deutschland liegt die Entscheidung, ob ein Kind geimpft wird oder nicht, bei den Eltern. Das ist richtig und sollte unbedingt so bleiben, erfordert aber, dass die Eltern vom Kinderarzt umfangreich aufgeklärt werden und sich umfassend zu dem Thema »Impfen« informieren. Das Robert-Koch-Institut bietet auf seiner Internetseite einen guten Überblick.

Hier werden auch die Nebenwirkungen aufgelistet, die in seltenen Fällen bei Impfungen auftauchen können. Darüber hinaus gibt es den Verein »Ärzte für individuelle Impfentscheidung«, auf dessen Internetseite Alternativen zu den Empfehlungen der ständigen Impfkommission genannt werden.

Dieser Beitrag basiert auf einem Interview aus dem Kundenmagazin viaWALA (www.viawala.de), Heft 10/2009.

Links:
Filderklinik: www.filderklinik.de
Robert-Koch-Institut: www.rki.de
Ärzte für individuelle Impfentscheidung: www.individuelle-impfentscheidung.de

Literatur:
J. Vagedes, G. Soldner: Das Kindergesundheitsbuch, München 2008