Jahrsiebte: Naturgegebenheit oder gesellschaftliches Konstrukt?

Peter Loebell

In seiner kleinen Schrift »Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft« schildert Rudolf Steiner drei Geburten, die in der Entwicklung des Menschen jeweils im Abstand von sieben Jahren aufeinander folgen. Nach der ersten, der physischen Geburt, vollzieht sich laut Steiner um das siebte Lebensjahr ein tiefgreifender Entwicklungsschritt, den er als »Freiwerden des Ätherleibes« bezeichnet. Die körperlichen und seelischen Veränderungen während der Pubertät um das 14. Jahr gelten dagegen als äußere Anzeichen für die Geburt des Astralleibes. Diese Auffassung gilt als eine wesentliche Grundlage der Waldorf­pädagogik.

Der wissenschaftliche Umgang mit dem pädagogischen Konzept Steiners bleibt bis heute eine anspruchsvolle Herausforderung. So wird in vielen erziehungswissenschaftlichen Darstellungen die Waldorfpädagogik weitgehend übergangen. Andererseits lässt sie sich angesichts der stetig wachsenden Zahl ihrer Kindergärten und Schulen als Kulturfaktor nicht mehr ignorieren. Die zentrale Frage ist: Lassen sich die von Steiner angegebenen Einschnitte in der Biografie allgemein bestätigen?

Wann ist das Kind reif für die Schule?

Die Schulreife setzt bei einem Kind eine Reihe von Merkmalen und Fähigkeiten voraus: Körperliche Merkmale (wie Körperproportionen und Zahnwechsel), kognitive Merkmale (wie Sprachbeherrschung und Instruktionsverständnis), motivationale Merkmale (zum Beispiel Neugier, Leistungsbereitschaft, Aufmerksamkeit) und Merkmale des Sozialverhaltens (wie Bereitschaft zur Lösung von Bezugspersonen und Selbstständigkeit).

Die genannten Merkmale werden meist unter den Begriffen »Schulreife«, »Schulfähigkeit« oder »Schulbereitschaft« zusammengefasst. Ihnen allen liegt jener Vorgang zugrunde, den Steiner als »Geburt des Ätherleibes« charakterisiert.

Das Konzept der Reifung suggeriert, dass ein Kind im siebten Lebensjahr grundsätzlich ohne äußere Förderung einschulungsfähig würde. Die Entstehung vieler der genannten Merkmale erweist sich aber als abhängig von einer entwicklungsfördernden Umgebung. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird daher meist von »Schulfähigkeit« gesprochen. »Schulfähigkeit bezeichnet weniger das, was ein Kind von selbst wird, sondern das, was die Umwelt von ihm verlangt«, sagt die Entwicklungspsychologin Lotte Schenk-Danziger.

»Schulbereitschaft« stellt dagegen die subjektive Komponente des Kindes in den Vordergrund. Sie sei dann gegeben, wenn ein Kind seine bisherigen Lernmöglichkeiten erschöpft habe und es in seiner geistigen Auseinandersetzung mit der Welt an einem Punkt angelangt sei, an dem es nach neuen Ordnungsprinzipien verlange, die es selbst nicht mehr gewinnen könne. Damit ist offensichtlich, dass Schulfähigkeit und Schulbereitschaft nicht ausschließlich auf Reifungs-, sondern auch auf Lernvorgängen beruhen. Diese beiden Konzepte sind in besonderer Weise geeignet, einen Entwicklungsrückstand festzustellen und eine kompensierende Förderung einzuleiten. Die Diagnose eines Rückstands beruht allerdings auf der Annahme, dass eine erwartete oder wünschenswerte Entwicklung im Rahmen der vorgegebenen Altersnorm nicht erreicht wurde. Dabei stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage die vorausgesetzten Normen zustande kommen. Sind es gesellschaftliche Anforderungen des Bildungssystems, denen die Kinder unterworfen werden? Oder gibt es doch einen natürlichen Reifezustand, durch den eine gesunde Entwicklung charakterisiert werden kann?

Reifungs- und Lernvorgänge bedingen sich wechselseitig: Beispiel Pubertät

Waldorfpädagogik beruht auf der Annahme, dass zwischen somatischer und psychischer Entwicklung ein enger Zusammenhang besteht, so dass Reifungs- und Lernvorgänge nicht isoliert voneinander zu erfassen sind: Aus körperlicher Veränderung entstehen Herausforderungen und Bedingungen für das Lernen; die Pädagogik kann wiederum auf die biologische Reifung zurückwirken. Das gilt auch für die Pubertät. Die körperliche Entwicklung in dieser Zeit bezieht sich neben der Fortpflanzungsfähigkeit insbesondere auf das Längenwachstum (vor allem zwischen dem elften und dem fünfzehnten Jahr) und auf die Ausreifung verschiedener Organe (Lunge, Herz, Kehlkopf und Gehirn); die genannten Prozesse stehen im Zusammenhang mit nachhaltigen psychischen und sozialen Veränderungen, die in der Anthro­posophie als »Geburt des Astralleibes« bezeichnet werden. Daraus ergeben sich typische Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel

•  vertiefte Beziehungen zu Altersgenossen;
•  Akzeptanz des veränderten eigenen Körpers;
•  geschlechtsspezifisches Rollenverhalten;
•  Loslösung vom Elternhaus;
•  sich Gedanken über die eigene Zukunft machen;
•  eine eigene Weltanschauung entwickeln.

Auch für dieses Lebensalter gilt: Es gibt körperliche Reifungs­vorgänge, die die Voraussetzung für psychische Verän­derungen bilden. Das gilt etwa für die Entwicklung des Gehirns: Für das Sozialverhalten, Bewertungen und die Anlage langfristiger Werte ist der orbitofrontale Cortex zuständig. Dieser Teil des Gehirns reift aber erst als letzter aus, frühestens in der Pubertät, meist sogar erst danach. Für den Neurobiologen Manfred Spitzer folgt daraus, dass man Ethik in der Unterstufe nicht unterrichten und eine Wertediskussion in der siebten Klasse noch nicht führen kann.

Durch die körperlichen Veränderungen entstehen für die jungen Menschen neue Handlungsimpulse und Herausforderungen, die von einem entwicklungsgemäßen Unterricht in der Waldorfschule aufgegriffen werden. Das zeigt sich sowohl im Lehrplan, als auch im angestrebten Kompetenzerwerb, der sich an den Entwicklungsaufgaben der jeweiligen Lebensalter orientiert.

Die Entwicklung geht in Richtung Verfrühung

Im Hinblick auf die physische Geburt ist es üblich, von einem »natürlichen« Termin zu sprechen. Sofern dieser Ansatz auf andere biografische Ereignisse übertragen wird, kann man von einer deskriptiv-normativen Sichtweise sprechen, die in der Entwicklungspsychologie bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts allgemein akzeptiert wurde. Auch heute noch besteht weitgehende Einigkeit darüber, wann ein Kind schulreif ist. Hinsichtlich der Geschlechtsreife stellt man eine Vorverlegung um zwei Jahre fest. Dabei ist von einer erheblichen Variationsbreite auszugehen.

Die Beschleunigung betrifft nicht nur die Pubertät, sondern die gesamte Kindheit. Schon bei Säuglingen und im Zuge des Gestaltwandels vor der Schulreife erscheint das Körperwachstum verfrüht gegenüber dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Zudem ist aktuell eine starke Tendenz der Bildungs­­politik zu beobachten, das Einschulungsalter vor­zuziehen, so dass die Kinder in vielen Bundesländern nicht mit sechs bis sieben Jahren, sondern schon mit fünf Jahren in die Schule kommen.

In anthroposophischer Interpretation müsste man davon sprechen, dass der Ätherleib für das kognitive Lernen beansprucht wird, bevor er die entsprechende Reife erlangt hat. Empirische Studien lassen den Schluss zu, dass diese vorzeitige Belastung negative Wirkungen auf den Lernerfolg der Kinder haben kann. Testergebnisse zeigen, dass ein Schüler, der mit sieben anstatt mit sechs Jahren ein­geschult wird, bessere Leistungen erzielt und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er später ein Gymnasium besucht.

Unreife lernen schlechter

Die große Variationsbreite in der kindlichen Entwicklung erfordert eine sorgfältige Einschulungs-Diagnostik und differenzierte Möglichkeiten für individuelle Förderung. Generell bestätigen auch die neueren empirischen Studien, dass nach wie vor mit Reifungsvorgängen gerechnet werden muss, die um das 7. Lebensjahr die somatischen (körperlichen) Voraussetzungen für kognitives Lernen schaffen. Pädagogen sollten im Interesse der Kinder darauf achten, dass Schulfähigkeit, Schulbereitschaft und körperliche Reifung zeitlich zusammenpassen. Dazu müssen alle drei Konzepte auf einer gemeinsamen theoretischen Grundlage beruhen. Die anthroposophische Pädagogik stellt durch die These von der »Geburt des Ätherleibes« diese Grundlage her.

Vor allem im Hinblick auf das Jugendalter haben die verfrühten körperlichen Veränderungen erhebliche Auswirkungen auf die seelische Entwicklung. Nicht nur, dass sie die Kindheit verkürzen, sie stellen auch die psychisch noch Unreifen vor besondere Probleme. Diese wissen oft nicht, wie sie mit dem Ansturm von neuen Wünschen, Bedürfnissen, körperlichen Empfindungen und Phantasien fertig werden sollen, die ihr reifender Körper ihnen »aufdrängt« (Schenk-Danzinger). Im Umgang mit Jugendlichen kann man die Erfahrung machen, dass die verschiedenen Dimensionen der pubertären Entwicklung zeitlich auseinander fallen, bestimmte Verhaltensbereiche nicht mehr synchron mit anderen verlaufen.

Frühreife Jugendliche werden leicht überschätzt

Jugendliche, die durch ihre frühe körperliche Entwicklung reifer erscheinen, werden von ihrer Umwelt oft überschätzt und erhöhten sozialen Anforderungen ausgesetzt. Daraus ergeben sich langfristige Wirkungen. Langzeitstudien zeigen, dass Frühreife auch mit 38 Jahren verantwortungsbewusster, kooperativer, selbstbewusster, kontrollierter und sozial angepasster waren als ihre Altersgenossen. Allerdings waren sie auch konventioneller, konformistischer und humorloser. Spätreifende Jugendliche waren im Vergleich impulsiver, unausgeglichener, aber auch selbsteinsichtiger, erfinderischer und spielerischer, wie die beiden Entwicklungspsychologen Rolf Oerter und Eva Dreher schreiben.

Fordert man von den jungen Menschen zu früh – also vor dem 12. Lebensjahr – das eigene kritische Urteil, so können sie nach Steiners Auffassung ihre Ansicht noch nicht aus den Kräften des Astralleibes entwickeln. »Fügen Sie dem Kinde die Untat zu, es zu früh kritisieren zu machen, es zu früh auf Ja und Nein abzustimmen, dann stopfen Sie dieses Ja und Nein, diese Kritik, in den Ätherleib hinein. (…) Man nimmt die Urteile der

anderen nicht mit Liebe auf, sondern mit einer in einem liegenden zerstörerischen Kraft, wenn man die Urteilskraft zu früh entwickelt«, so Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über »Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geistes­wissenschaftlicher Menschenerkenntnis«.

Nimmt man die verschiedenen Zeitangaben Steiners ernst, so handelt es sich bei den Geburtsvorgängen des Äther- und des Astralleibes um langfristige Entwicklungen, die bereits Jahre vor dem siebten beziehungsweise vierzehnten Lebensjahr beginnen und darüber hinaus fortdauern. Dabei kommt es offenbar weniger auf die exakte Terminierung an, als darauf, die verschiedenen Dimensionen zu synchronisieren. Vor allem aber geht es darum, einen Schutzraum zu schaffen, in dem die Reifungsvorgänge unbeschadet ablaufen können.

Reifung bedarf des Schutzes

Wenn Steiner in seinen pädagogischen Vorträgen immer wieder auf den »Zahnwechsel« als äußeres Zeichen für das Freiwerden des Ätherleibes hinweist, so handelt es sich um das Bild für einen Geburtsprozess, der erst im Laufe von etwa sieben Jahren vollständig abgeschlossen wird: Was im Verborgenen (in den Kieferknochen) herangereift ist, tritt nach und nach sichtbar hervor und übernimmt seine Aufgabe in der Auseinandersetzung mit den Wirkungen der äußeren Welt.

Das Gleiche gilt nach Steiners Auffassung auch für die Wesensglieder des Menschen. In ihrer Ausbildung sind sie zunächst auf den Schutz einer »Mutterhülle« angewiesen, in dem sie ungestört heranreifen können. Ihre Befreiung geht damit einher, dass äußere Herausforderungen gesucht werden, an denen die jungen Menschen ihre neu hervortretenden Kräfte sinnvoll betätigen können. Der Schutzraum, den die Pädagogik schaffen soll, wird nach Steiners Auffassung durch die Gegenwart von Erwachsenen erzeugt, die den Vorschulkindern als Vorbild und den Schulkindern als »geliebte Autorität« dienen sollen. Die Wirkung solcher Erzieher­persönlichkeiten kann den Kindern die Möglichkeiten eröffnen, die schutzbedürftigen Kräfte ihrer noch nicht eman­zipierten Wesensglieder auszubilden. Diese Auffassung wird heute von Erfahrungen und Forschungsergebnissen aus Psychologie und Neurobiologie betätigt.

So konstatiert der Neurobiologe Joachim Bauer in seinem Buch über Spiegelneurone, dass »die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden von über­ragender Bedeutung und die persönliche Unterweisung, auch das Zeigen und Vormachen durch die lehrende Person, eine entscheidende Komponente des Lehrens und Lernens ist.«

Nach Auffassung des Neurobiologen Gerald Hüther soll die Schule eine Atmosphäre von Herausforderung, Schutz und Vertrauen schaffen. So schreibt er in seinem Aufsatz »Resilienz im Spiegel entwicklungsneurobiologischer Erkenntnisse«: »Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene ›Vorbilder‹ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden.«

»Mutterhüllen« für die verletzlichen, noch nicht emanzipierten Kräfte der ungeborenen Wesensglieder sind nach Steiners Darstellung die Lebens- und Entwicklungsräume, die Erwachsene durch ihr kompetentes, verantwortliches pädagogisches Handeln schaffen. Die Jahrsiebte sind in diesem Sinne Entwicklungsphasen mit individuellen, historischen und kulturellen Variationen, die von Pädagogen sensibel wahrzunehmen und verantwortlich zu begleiten sind.

Zum Autor: Prof. Dr. Peter Loebell, Diplom-Soziologe, bis 1996 Klassen­lehrer an der Freien Waldorfschule Eckernförde, dann Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Promotion Erziehungswissenschaft zum Thema »Lernen und Individualität«. Professur für Lernpsychologie und Schulentwicklung.

Literatur:
Rolf Oerter / Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim 2002
Patrick A. Puhani / Andrea M. Weber: Fängt der frühe Vogel den Wurm? Eine empirische Analyse des kausalen Effekts des Einschulungsalters auf den schulischen Erfolg in Deutschland, Hannover 2006
Lotte Schenk-Danzinger: Entwicklungspsychologie, Wien 2004
Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin 2002