Ausgabe 03/24

Jede Stunde zählt. Die Geschichte einer Kampagne.

Miriam Rönn

Die Essenz einer Kampagne ist der Claim. Ein Satz, ein Reim, eine Wortkreation. Am Ende einer langen Planung verdichtet der Claim all das, was viele Menschen in zeitintensiven Prozessen erarbeitet haben. Er bringt die Ideenentwicklung über die Analysen von Zielgruppen und Unternehmenszielen bis hin zu umfassenden Strategieplanungen auf den Punkt.

Die seit September 2023 laufende Kampagne der Freien Waldorfschulen Jede Stunde zählt ist die umfassendste und größte gemeinsame Kampagne der Freien Waldorfschulen in ihrer Geschichte. Von der ersten Idee bis zum Start haben über 500 Menschen in 50 Workshops an der Konzeption und Umsetzung der Kampagne zur Lehrer:innen-Gewinnung gearbeitet. Den akuten Lehrer:innenmangel vor Augen, hatten Vorstand und Öffentlichkeitsarbeit bereits 2020 die Notwendigkeit einer bundesweiten Aktion zur Gewinnung von Lehrkräften für die Waldorfschulen erkannt. Das während und nach der Corona-Pandemie massiv auftretende Imageproblem unserer Schulen verlangte dann jedoch von allen Beteiligten ein komplettes Umdenken und eine neue Konzeption für eine Kommunikationskampagne. Im Vordergrund stand nicht mehr allein die Akquise von neuen Lehrer:innen, sondern gleichermaßen auch die Erklärung, die Definition dessen, was Waldorfschule im Kern ausmacht. Nun sollte es also gleichzeitig eine Lehrer:innen- und eine Imagekampagne werden.

Marken-Wesenskern:
«Wer sind wir eigentlich und was macht uns aus?»
 

Mit der Ausarbeitung des Marken-Wesenskerns von Waldorfschule haben wir 2021 begonnen. In Workshops mit Lehrer:innen, Dozent:innen, Eltern, Studierenden, Öffentlichkeitsarbeiter:innen, Geschäftsführer:innen und Vorstand haben wir Aussagen zu den verschiedenen Dimensionen von Waldorfschule erarbeitet und in einer Matrix verdichtet. Ausgehend von der Frage «Wo kommen wir her und wofür machen wir, was wir machen?» haben wir uns intensiv mit der geplanten Lehrkräftegewinnungskampagne als bewusstseinsverstärkenden Prozess auseinandergesetzt. Geleitet wurden wir von den Fragen: «Wenn wir neue Lehrkräfte für die Waldorfschulen gewinnen wollen, wissen wir eigentlich, was die Waldorfschulen im Kern ausmacht? Haben wir davon alle das gleiche Verständnis und können wir das interessierten Menschen klar und überzeugend vermitteln?»
Zunächst wollten wir Stück für Stück im Innen, zwischen den internen Zielgruppen innerhalb der Waldorfschulen klarer und transparenter werden: Das sind wir, das zeichnet uns aus und etwas anderes sind wir nicht, um im nächsten Schritt nach außen zu kommunizieren, was wir versprechen, was die Waldorfschulen sind. Das übergeordnete Ziel ist dabei: Das, was Menschen im Kontakt mit Waldorfschulen erleben, also das sogenannte Markenerlebnis, entspricht in hohem Maße dem, was wir als Waldorfschulen versprechen, also das sogenannte Markennutzenversprechen.

Agenturbriefing: «Was soll die Kampagne leisten?»
 

Die Frage: «Was ist das Wichtigste, das wir kommunizieren wollen?» wurde beantwortet mit der aus der Matrix gewonnen Essenz: Lehre Leben! Damit junge Menschen zu den Menschen werden können, die diese Welt braucht.

Die Kampagne soll dazu beitragen, mehr Lehrer:innen für den Beruf Waldorflehrer:in zu gewinnen. Sie sollen Interessent:innen zu mehr Anmeldungen bei den Seminaren für Waldorfpädagogik anregen. Außerdem wünschen wir uns mehr Bewerbungen von Seiteneinsteigenden als Waldorflehrkraft und möchten neue, zunächst noch undefinierte Zielgruppen erschließen und gewinnen. Wichtig war die Fokussierung auf Möglichkeiten, nicht auf Probleme und vergangene Schwierigkeiten.
Nach fünf Terminen und Briefings mit verschiedenen Agenturen haben wir uns für die auf Wissenschaftskommunikation spezialisierte Kreativ- und Kommunikationsagentur Nordsonne Identity in Berlin entschieden. Wie wir nachträglich immer wieder freudig feststellen: eine hervorragende Wahl.

Persona Workshops: «Klischee ist eindeutig gewünscht!»
 

In drei Workshops mit Lehrenden, Absolvent:innen und MINT-Studierenden haben wir nach einer Methode aus dem Design Thinking drei Personas erarbeitet. Dies bedeutet, wir haben ganz konkret in jedem Workshop eine Klischee-Person erarbeitet, die exemplarisch für eine der drei Zielgruppen steht. Wie schaut diese Person aus? Was sind ihre Interessen? Was liest sie und wo liest sie? Wie informiert sie sich? Was sind ihre Leidenschaften und was mag sie nicht? Was wünscht sie sich in ihrem Beruf? Was braucht sie, um sich in ihrem Job wohlzufühlen?
Am Beispiel der quereinsteigenden Naturwissenschaftlerin sei im Folgenden kurz dargestellt, wie eine solche Analyse ausschaut.

Matching Werteversprechen: «Können wir halten, was wir versprechen?»
 

Nachdem die Personas als Stellvertreter:innen einer besonderen Zielgruppe definiert waren, begann einer der wichtigsten Prozesse in der Konzeption der Kampagne: die detaillierte Ausarbeitung der Ansprache der Zielgruppen. Es wurde erörtert, mit welchen Bedürfnissen sowie Problemen die Zielgruppen befasst sind und in welchem Maße wir als Waldorfschulen hier Lösungen für Probleme und Herausforderungen liefern und welchen Nutzen und welche Bedürfnisbefriedigung wir tatsächlich anbieten können. Sozusagen ein Realitäts-Check.

In einem weiteren Workshop mit Teilnehmenden der Persona-Entwicklungen haben wir dies Punkt für Punkt analysiert. Die Ergebnisse haben die Erwartungen aller Teilnehmenden übertroffen. Alle Daten, Erkenntnisse und Recherchen zu unseren eigenen Werten, Zielen und Herausforderungen und die zu den verschiedenen Zielgruppen lagen vor und bildeten die Grundlage für die Kampagnenkonzeption.

Kampagnenkonzeption: «Wie soll das jetzt alles aussehen, klingen, laufen?»
 

Aus unseren Workshops, Umfragen und Interviews konnten wir eine bedeutende Erkenntnis über den Kern und das Alleinstellungsmerkmal unserer Schulen gewinnen. Wertschätzung, Sinnhaftigkeit und ‚gesehen werden‘ waren die wohl am häufigsten genannten Begriffe, wenn es um den Wesenskern und die positiven Merkmale unserer Schulen ging.

«Waldorflehrer:in sein bedeutet, schon in der Ausbildung wertgeschätzt und gesehen zu werden – um später Kinder und Jugendliche in ein selbstbestimmtes, individuelles Leben zu begleiten.» Diesen Satz galt es nun in ein visuelles Kommunikations- und Kreativkonzept zu transferieren. Unterschiedliche Narrative, durchdekliniert in ihrem visuellen Erscheinungsbild, der Tonalität, dem Wording und den zu vermittelnden Botschaften wurden entwickelt. Allen gemein war es, die Bedürfnisse der Zielgruppe nach Sinnhaftigkeit, Gemeinschaft und Veränderung anzusprechen, die Inspiration, Wertschätzung und Begeisterung, die im Waldorf-Miteinander erlebt werden, zum Ausdruck zu bringen.
Überzeugt hat alle an dem Prozess Beteiligten der Claim Jede Stunde zählt. Er vermittelt folgende Botschaften: Zeit ist ein wertvolles Gut, das in der Waldorfschule geschätzt wird. Die Schulzeit ist relevant für Schüler:innen und Lehrer:innen. Jede Schulstunde ist Wertschätzung, Inspiration und Begeisterung. In der Waldorfschule ist jede Stunde wichtig, denn im Waldorf-Miteinander werden wohlwollende, positive Ziele erlebt. In jeder Stunde kommen die Bedürfnisse der Zielgruppe nach Sinnhaftigkeit, Gemeinschaft und Veränderung zum Ausdruck.

Bildsprache
 

Für die Bildsprache bedeutete dies, dass Lehrer:innen im Mittelpunkt stehen und unsere Zielgruppe Protagonist:innen erlebt, mit denen sie sich identifizieren kann. Die Vielseitigkeit der Pädagogik soll durch die Darstellung der vielen unterschiedlichen Aktivitäten abgebildet werden.

Warme und leuchtende Farben sollen Interesse wecken, das Leben in und an den Waldorfschulen zu entdecken. Gleichermaßen repräsentieren sie die «außergewöhnlichen Klassenzimmer» unserer Schulen. Lernen im Freien, handlungsorientierte Pädagogik mit vielen Exkursionen, Reisen und Praktika. Eine weitere Rolle bei der Auswahl der Farben spielte auch der Fokus auf den Unterschied zum Unterricht der Regelschulen.

Die Schriften (Typo) der Kampagne sollten die Bildsprache sinnvoll unterstützen und darüber hinaus auch noch eine aktivistische, dynamische Komponente in den visuellen Auftritt integrieren. Die Entscheidung für die Hauptschrift fiel auf HVD Crocodile. Sie bricht ein wenig die Harmonie und Wärme der Farben und generiert damit Aufmerksamkeit. Außerdem unterstreicht sie beim Lesen den Eindruck von Individualität durch die unterschiedliche Buchstabenbreite. Die gewollte Ausfransung der Buchstaben kann Assoziationen zur Natur, eine schöne Natürlichkeit hervorrufen.

Echte Menschen


Nach der Entscheidung für die einzelnen Komponenten begann die Suche nach Menschen, die unserer Kampagne Gesichter geben sollten. Selbstverständlich sollten diese sogenannten Testimonials richtige Waldorflehrer:innen sein und keine Models. Sieben Lehrer:innen durften wir begleiten, beobachten und befragen, was für sie Jede Stunde zählt. Wir sind glücklich und dankbar, dass uns die Waldorflehrer:innen mitgenommen haben in ihre Welt: Dustin aus Mülheim, Aicha aus Trier, Johanna aus Überlingen am Bodensee, Max aus Leipzig, Ivana aus Aachen, Elias aus Krefeld und Khalila, die angehende Waldorflehrerin aus Berlin. Das Ergebnis ist eine sehr diverse, emotionale und unglaublich authentische und warmherzige Darstellung des Lehrer:innen-Berufs an den Freien Waldorfschulen.

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