Meditation und Moral

Anna-Katharina Dehmelt

Sie sitzen in Reihen oder im Kreis, auf Stühlen oder auf Kissen, kniend oder im Lotossitz, mit offenen oder geschlossenen Augen. Sie meditieren, wenige Minuten, eine halbe Stunde, vielleicht eine ganze. Sie befreien ihr Bewusstsein von allen Anhaftungen, oder sie erfüllen sich mit Mitgefühl und Zuwendung. Sie tun dies, indem sie ihr Bewusstsein auf ein bestimmtes Objekt fokussieren oder indem sie gerade nichts fokussieren und alles loslassen. Überall geschieht das heute, und für viele Menschen ist solches Tun eine Selbstverständlichkeit, alleine und immer wieder auch in Gruppen, mit oder ohne Anleitung.

Als Rudolf Steiner 1904 anfing, über Meditation zu sprechen, geschah das in kleinen Kreisen, oft im Verborgenen. Die Menschen, die Steiner meditativ unterwies, hatten zwar als Kinder beten gelernt – Meditation war jedoch in europäischen Kulturkreisen etwas Neues und Ungewohntes. Steiner gab individuelle Anweisungen, über die seine Schüler zumeist Stillschweigen bewahrten. So wurde es im Wesentlichen durch das 20. Jahrhundert hindurch beibehalten, und auch wer eine der von Steiner veröffentlichten Meditationsanweisungen praktizierte, tat das im Stillen.

Die Verbreitung meditativer Praxis erhielt in Europa in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen ersten kräftigen Anstoß durch das Bekenntnis der Beatles zur Transzendentalen Meditation. Von den orange gekleideten Sanyassins mit Holzketten und vom Dalai Lama gingen die nächsten Schübe aus, und nach und nach siedelten sich in Deutschland die verschiedensten Meditationsschulen an: hinduistische Advaita-Meditation, buddhistische Tonglen-Meditation, Zen-Meditation, bisweilen in eine christliche Praxis integriert – dies nur als herausgegriffene Beispiele und jeweils in verschiedensten Ausprägungen. In den neunziger Jahren entdeckte Jon Kabat-Zinn die gesundheits­fördernden und stressreduzierenden Wirkungen buddhistischer Achtsamkeitsmeditation. Meditation begann sich von ihrem spirituellen Hintergrund zu lösen und wurde zu einer Praxis, die Entspannung, Freude und Kräftigung vermittelt.

Zwei Arten der Meditation

Behält man aber den spirituellen Hintergrund im Blick, so lassen sich – stark vereinfacht – zwei große Ausrichtungen des Meditierens unterscheiden, von denen die anthroposophische als eine dritte sich erst allmählich abzuheben beginnt. Und mit jeder dieser Ausrichtungen geht eine bestimmte moralische Grundhaltung einher. 

Da sind zunächst jene Meditationspraktiken, in denen der Mensch sich von den Anhaftungen an das äußere Leben, aber auch an die eigenen Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Pläne befreit und eine Verfassung anstrebt, in der das Bewusstsein sich nur noch auf sich selbst richtet und dadurch seiner inneren Natur gewahr wird. Das Bewusstsein befreit sich von allen Bindungen und entdeckt dabei, dass es ein Tropfen in einem großen, alldurchdringenden Bewusstseinsmeer ist. Es erfährt sich als auf sich selbst beruhend, als frei, und zugleich mit allem verbunden.

Die zweite Richtung steuert die Erfahrung der All-Verbundenheit durch das Eintauchen in eine seelische Qualität an, die diese Verbundenheit unmittelbar erlebt und auslebt: als Mitgefühl, Hingabe, Liebe. Beiden gemeinsam ist ein Wandel im Bewusstsein und im Selbstverständnis, das zur Erfahrung der All-Verbundenheit, der Ungetrenntheit des Einzelnen von der Welt, der letztendlichen Einheit von Subjekt und Objekt führt, wie auch immer das dann begrifflich konzipiert wird, ob als Brahman, Nirwana oder Boddhisattva, als Geist, Gott oder Selbst, als Fülle oder Leere. Freiheit auf dem ersten, Liebe auf dem zweiten Weg sind die Grundqualitäten, um die es geht und die in und durch die Meditation ausgebildet werden.

Durch die Veränderungen, die die klassischen hinduistischen und buddhistischen Meditationsweisen auf ihrer Reise über Amerika nach Europa erfahren haben, kann man heute nicht mehr selbstverständlich von einer mit ihnen verbundenen weltflüchtigen Tendenz sprechen. Sicherlich, die Meditation selber findet im Rückzug vom äußeren Leben statt – so wie alle Fähigkeitsbildung und jede Entwicklung von etwas Neuem des zumindest partiellen Rückzugs bedarf – , aber nicht, um dieses zu verlassen, sondern um es zu bereichern. Man müsste einmal untersuchen, inwieweit die Friedens- und Umweltbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts auch Ausdruck sich verbreitender meditativer Praxis waren: Denn beide setzten voraus, dass der Einzelne sich nicht in seiner Einzelexistenz erschöpft, sondern über sein Einzelsein hinausragt und aus dem Empfinden seiner Verbundenheit mit der Welt Verantwortung übernimmt.

Anthroposophische Meditation

Die anthroposophische Meditation geht noch einen Schritt weiter. Meditation war für Steiner ein Weg, um den konkreten Ausdruck der All-Verbundenheit im Hier und Jetzt zu erleben: zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, Kultur oder Technik, zwischen dem Einzelnen und seiner Aufgabe.

Die Verbundenheit im All-Einen setzt Steiner dabei gedanklich voraus, aber sie ist nicht das Ziel anthroposophischer Meditation. Ziel ist, in das jeweils ganz konkrete Andere unterzutauchen und sich mit ihm zu verbinden, frei, liebevoll – und aus Einsicht. Einsicht und Erkenntnis sind die Komponenten, die Steiner der traditionellen Meditation hinzufügt: eine Erkenntnis, die sich dem Anderen nicht äußerlich gegenüberstellt, sondern es quasi von innen erkennt – von da aus, wo Ich und das Andere real miteinander verbunden sind.

So geht die anthroposophische Meditation von der gewöhnlichen Alltags-Erkenntnis aus und vertieft diese meditativ. Dann meditiert der Arzt die Heilpflanze, der Pädagoge den dreigliedrigen Menschen, der Landwirt die Bodenverhältnisse. Sie alle führen, ausgehend vom gewöhnlichen Bewusstsein, einen inneren Prozess durch, in dem sie sich das Andere anverwandeln. Was sie durch Wahrnehmung und Denken über die Heilpflanze, den Schüler oder den Erdboden erfahren können, wird in der Meditation belebt zum Bild, wird im Fühlen sprechend, und ergreift schließlich den Willen. Freiheit und Liebe auch hier, aber hinzu kommt Einsicht, Erkenntnis von innen, ein tiefes Wissen um das Wesen dessen, womit man sich beschäftigt. Ein Wissen, das nicht diskursiv ist, das nicht ohne weiteres kommuniziert werden kann, das sich aber im konkreten Handeln ausdrückt.

Meditation als Quelle der Moral

Meditativ erarbeitete Wesenserkenntnis in diesem Sinne ist ihrer Natur nach verbunden mit einer Moral, die unmittelbar aus der Anverwandlung an das Andere entspringt – eins ist ohne das andere nicht zu haben. Der Prozess der Anverwandlung in der Meditation bildet Einsicht und Moral gleichzeitig. Der Quell der inneren Verbundenheit mündet ins konkrete Handeln, äußert sich als neue Sichtweise – plötzlich bemerke ich etwas, was ich vorher übersehen habe, plötzlich ändert sich die emotionale Einstellung, plötzlich weiß ich, was zu tun ist. Der Zusammenhang zwischen einem Heilmittel und der Krankheit wird greifbar, zwischen dem Sorge bereitenden Kind und einem pädagogischen Einfall, zwischen den Bodenverhältnissen und der Schädlingsbe­kämpfung. Es ist eine Moral, die keine Regeln, Normen oder Rezepte enthält, die nirgendwo vorgegeben und völlig individuell ist. Sie entspringt der Verbindung des Meditierenden mit seinem Handlungsfeld, ist beiden inhärent, in jedem Augenblick neu. Sie ruht auf der Tragfläche der meditativ erzeugten Verbundenheit, dem Dreieck aus Freiheit, Liebe und Einsicht.

Jede spirituell orientierte Meditationspraxis wird von Übungen und Anforderungen begleitet, die eine individuelle Moral ausbilden. In den sogenannten Nebenübungen Steiners geht es beispielsweise um die Ausbildung von Gelassenheit, Positivität und Unbefangenheit. Doch hier handelt es sich nicht um moralische Vorschriften – es gibt für den Meditierenden kein moralisches Pflichtprogramm – das wäre gerade in der Anthroposophie ein völliges Missverständnis. Aber es gibt Eigenschaften, die es leichter machen, sich mit seinem Meditationsinhalt und der in ihm repräsentierten Wirklichkeit zu verbinden. Extreme seelische Schwankungen, Kritiksucht und Vorurteile gehören nicht dazu, denn sie schließen die Seele in sich selbst ab, anstatt sie zu öffnen und aufnahmefähig zu machen für das Andere. Eine neue Moral, die die Welt und die Mitmenschen weder regelt noch behandelt, sondern die aus der individuellen und konkreten Einsicht in die wesenhafte Verbundenheit in jedem Augenblick neu entsteht, ist die Frucht anthroposophischer Meditationspraxis. Die Basis bildet ein Bewusstsein, das sich nicht abgrenzen muss, um sich selbst zu schützen, sondern sich weiten und öffnen kann, um darin sehend zu werden.

Zwei Dinge braucht der Meditierende: innere Ruhe und völlige Konzentration. Man nehme sich drei Minuten, in denen man sein Bewusstsein befreit von allem, was in ihm auftaucht an Wahrnehmungen, Gedankenfetzen, Erinnerungen oder Gefühlen – und bleibt doch wach dabei – so wach, dass man alles, was im Bewusstsein auftaucht, bemerkt und einfach abfließen lassen kann. Dann konzentriere man sich drei Minuten auf etwas ganz Einfaches, zum Beispiel auf ein Dreieck. Man entscheide sich, wie groß, wie farbig, aus welchem Material es sein soll, und dann lasse man nichts anderes als dieses Dreieck im Bewusstsein und bilde es, sobald es sich verflüchtigt, immer wieder neu. Danach kehre man noch einmal für drei Minuten in die Ruhe des sich befreienden Bewusstseins zurück. Wo man abgleitet oder müde wird, wende man sich nüchtern und ohne Ärger zum Vorgenommenen zurück. Auch wenn man hundertmal scheitert: Es geht ums Üben, nicht ums Können. Die dabei aufgewendete innere Kraft ist ein guter Ausgangspunkt für den Aufbau eines meditativen Lebens, das aus Freiheit, Liebe und Einsicht neue Moral stiftet.

Zur Autorin: Anna-Katharina Dehmelt, studierte Musik, Wirtschaftswissenschaft und Anthroposophie, arbeitet als Kauffrau und ist Dozentin und Autorin für Anthroposophie. 2012 Gründung des Instituts für anthroposophische Meditation.

Link: www.InfaMeditation.de