Interkulturell, künstlerisch und polyglott – die (Waldorf) Schule von morgen

Slava Rozentuller, Juliette Norbron

Entscheidend für die Bildung – und überhaupt für das Leben – ist nicht, wie viele Stunden wir mit dieser oder jener Aufgabenstellung verbringen; entscheidend ist die Intensität, die unsere Lern- und Schaffensprozesse durchlaufen. Intensität ist die Fähigkeit der Seele, sich vollkommen einem Inhalt, einem Vorgang hinzugeben und darin präsent zu sein. 

Der Dialog der Kulturen ist oberstes Bildungsziel

Was heute notwendig ist, sind Schulen mit interkulturellem Profil. Die Integrationsproblematik ist nicht nur in Deutschland allgegenwärtig und offensichtlich. Die im Zeitalter der Globalisierung vorhandenen sozialen Spannungen zwischen unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen und unterschiedlichen Mentalitäten werden zu immer neuen Konflikten und Krisen führen, wenn wir nicht die Chance nutzen, sie durch den Dialog zwischen den Kulturen zu lösen.

Der russische Philosoph Vladimir Solofjev sagte, dass dies nicht eine Frage der Nationalität sei, sondern eine des Bewusstseinszustands. Wir können dieses Bewusstsein auch »Ich-bin-Bewusstsein« nennen, ein Bewusstsein, durch das der Mensch sich als geistiges und nicht nur naturgegebenes Wesen erkennt. Dadurch wird auch der Mitmensch als ein »Ich-bin-Wesen«, als geistige Individualität wahrgenommen, nicht als Teil einer ethnischen Gruppe. Menschheit, nicht Nation ist seine Heimat, wobei die Besonderheit jeder Sprachgemeinschaft und Nation als einmalige Melodie innerhalb einer ganzen Symphonie der Menschheit empfunden und geachtet wird. In dieser Hinsicht sind Menschen aller Nationen, die den Geist unserer Zeit spüren, Weltbürger.

Unterschiede als Bereicherung erleben

In Schulen mit einer interkulturellen Ausrichtung kann der Dialog der Kulturen beginnen. Nicht indem sie die ethnischen Unterschiede einebnen, sondern – vor allem durch die Künste – kultivieren. Interkulturelles Profil bedeutet, alle Phänomene und Bausteine, aus welchen Kulturen bestehen, zu erforschen und zu erleben.

Die Aufgabe, Weltkultur zu erleben, zu verinnerlichen und sich zu eigen zu machen, ist das zentrale Anliegen einer solchen Schule.

Deren Ziel ist nicht, die verschiedenen Traditionen lediglich nebeneinander zu stellen, obgleich dies natürlich zu größerer Toleranz und einem gewissen Interesse gegenüber dem Anderen führen kann. Wichtiger ist es ihr, die geistigen Wurzeln der verschiedenen Traditionen zu entdecken und ihre jeweilige Einzigartigkeit, die alle anderen bereichert hat und in Gegenwart und Zukunft weiterhin bereichern wird.

Fächer, die mit der menschlichen Seele zu tun haben, mit ihrem Suchen, Ringen, ihren Problemen und Irrungen stünden im Mittelpunkt einer interkulturellen Schule. Das sind Literatur, Sprachen, Geschichte, Philosophie, Psychologie, Religion, Soziologie – Dazu gehören wesentlich alle Künste: Theater, Dichtung, Musik, Malerei, Plastizieren und Tanz.

Warum Kunst? Nicht nur, weil sie einen entscheidenden Teil einer jeden Kultur darstellt und weil sie ein entscheidender Faktor in der Entwicklung der Menschheit ist. Die Kunst gibt uns darüber hinaus die Möglichkeit, eine universelle, nicht auf eine Menschengruppe beschränkte Sprache zu verstehen und zu lernen, die Sprache der Seele selbst, eine Sprache, die uns tiefer berührt als unsere Sprache des Alltags und des Verstandes. Eine solche Kommunikation – durch Lyrik, Musik, Bewegung – ist unverzichtbar, wenn wir ernsthaft über einen Dialog, eine gegenseitige Befruchtung der Kulturen sprechen.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss Kunst intensiv geübt werden. Damit die Seele sich verändern kann, muss sie berührt werden, muss sie sich trauen, sich zu öffnen und verwandelt zu werden. Erst dann kann sie einer anderen und andersartigen Seele begegnen und sie aufnehmen.

Das Potenzial des Theaterspielens wird unterschätzt

Das Theater und das dramatische Arbeiten wird auch an Waldorfschulen trotz der gängigen Klassenspielpraxis unterschätzt. Als Schulfach und Teil des Schulprofils könnte Theater für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen noch viel mehr leisten, als dies heute gesehen wird. Warum? Die Grundelemente, mit welchen beim Schauspiel immer gearbeitet wird, sind Imagination und Wille. Die Schauspielenden stellen sich Situationen und Figuren so konkret, innerlich lebendig und aktiv vor, dass diese für sie »real« werden. Die Bilder berühren sie als Schauspieler und erschaffen eine neue Welt, in die sie miterlebend eintauchen. Hamlets Versunkenheit, Macbeths Gier nach Macht oder der zärtliche Austausch von Romeo und Julia im Morgengrauen sind Bilder, die beginnen, zur Seele zu sprechen und ihre eigenen psychologischen Inhalte zu offenbaren. Damit dies geschehen kann, müssen die Vorstellungen und Bilder viel stärker als gewöhnlich mit Willen und Gefühlen durchdrungen sein. Auf der anderen Seite verwirklicht der Schauspielende immer verschiedene Tätigkeiten. Er zweifelt, sucht nach Lösungen, erlebt Schmerz oder Freude, ohne dass äußere Bedingungen ihn dazu zwingen würden. Das bedeutet, dass er sich darin übt, seinen Willen und die Gefühle nur aus reiner, innerer, bewusster Aktivität in Bewegung zu bringen. Wenn an ausgewogener, schöner Bewegung, Genauigkeit in Gestik, Sprache und Raumgefühl, Konzen­tration und Improvisation in ihrer jeweiligen Beziehung zum Inhalt der Handlung gearbeitet wird und man dazu noch die sozialen Prozesse während der Proben und Aufführungen berücksichtigt, dann wird deutlich, wie ganzheitlich das geistig-seelisch-physische Wesen des Heran-­­ wachsenden gefördert wird. Und je mehr Situationen, Charaktere und Schicksale er auf diese Weise erlebt, desto mehr erweitert und vertieft er sein Selbst- und Weltverständnis.

Das Theaterspiel eröffnet ein weites Feld für interdisziplinäre Projekte, in denen Lehrer mit den verschiedensten Fächern und Spezialgebieten gemeinsame Unterrichtsprojekte wie Literatur-Theater, Fremdsprachen-Theater, Geschichte-Kreatives Schreiben-Theater und viele andere mehr entwickeln.

Gemeinsam eine Welt erschaffen

Als Beispiel sei das Projekt »Literatur und Theater« skizziert:

Verschiedene Interpretationen der Figuren und Aussagen eines Romans können durch ihre Umsetzung auf der Bühne überprüft und verifiziert werden. Die Betonung einer bestimmten Interpretation verändert die gesamte Komposition und Atmosphäre der Inszenierung. Ein Text lässt sich auch lediglich auf eines seiner Hauptmotive hin lesen und für die Bühne bearbeiten. Dann kann man entweder mit verschiedenen Arbeitsgruppen den verschiedenen Motiven nachgehen, oder man entscheidet sich für intertextuelle Arbeit und vergleicht das zentrale Motiv eines Romans mit seiner Thematisierung in anderen Werken (zum Beispiel die Liebe in Shakespeares »Was ihr wollt« mit der in »Romeo und Julia« oder »Don Juan«). Auf diese Weise können sich die Schüler den zugrunde liegenden psychologischen und soziologischen Archetypen eines Romans, seiner Handlung und seiner Figuren durch eigene Tätigkeit, eine so genannte kreative Analyse, nähern.

Das Theaterspiel ermöglicht ein ganzheitliches seelisches Erlebnis, das die Übergänge zwischen Bild und Handlung, Form und Improvisation, Vorstellung und Gefühl erfahren lässt. In dem künstlerischen Prozess »verkörpern« sich allmählich die zuerst betrachteten Bilder und schaffen dabei eine neue, künstlerische Wirklichkeit. So werden sie zu seelisch getragenen Handlungen und der »Spielende« wird selbst verwandelt.

Wie Marie Maas in der Süddeutschen Zeitung in ihrem Beitrag »Spielend zum Abitur« (1.8.2011) schreibt, steigt das Interesse der Schulen, »Darstellendes Spiel« als reguläres Unterrichtsfach einzuführen. Schultheater kann mittlerweile in neun Bundesländern als Prüfungsfach gewählt werden. – Werden die Waldorfschulen trotz ihrer Klassen- und Fremdsprachenspiele links überholt? Eine Intensivierung des Theaterspiels tut Not! In der Oberstufe müsste dieses Fach mit mindestens drei Wochenstunden und einem zwei- bis dreiwöchigen Projekt pro Jahr unterrichtet werden. Das Projekt könnte ein Fremdsprachenspiel sein oder Szenen aus Geschichte oder Literatur verschiedener Epochen und Kulturen.

Interkulturell unterwegs

Der nächste Schritt führt aus der Schule hinaus, hin zu öffentlichen Aufführungen, Treffen mit Schülerinnen und Schülern von anderen Schulen, die ein ähnliches Profil haben, zu Festivals, Foren für mündlichen Austausch und besonders zum Kontakt zu Schulen im Ausland. Stellt man sich vor, dass auch Lehrer und Eltern aktiv daran mitwirken, dann ergibt sich das Bild eines Beziehungsnetzes zwischen Schulgemeinschaften in verschiedenen Ländern, die auf rein menschlicher, kulturell-künstlerischer Ebene kommunizieren. Markus Stettner-Ruff hat in seinem Artikel über »Weltwissen für Waldorfschüler« (10/2010) dafür plädiert, jeden Schüler zu mindestens einem Auslandaufenthalt zu verpflichten, zum Beispiel durch die Verknüpfung von Fremdsprachenunterricht und Sozialpraktikum.

Seine Kernaussage lautet sinngemäß, dass wir durch interkulturellen Austausch das kosmopolitische Denken und Fühlen in den Seelen der jungen Menschen verankern können, und dass wir durch das geistige, seelische und körperliche Erfassen der Fremdsprache zu wirklicher Weltbürgerschaft befähigt werden. Es liegt auf der Hand, dass durch künstlerische Betätigungen und durch das Modell des interkulturellen Schulprofils ein solcher Effekt deutlich verstärkt werden kann.

Natürlich bedeutet eine solche Schulform eine besondere Herausforderung für die dort Lehrenden, und es wäre wünschenswert, dass die Waldorflehrerseminare einen speziellen Fachbereich entwickeln, der die Studierenden gezielt auf eine solche interkulturell ausgerichtete Arbeit vorbereitet. Dann aber könnte man die Idee der interkulturellen Schule weiterspinnen, hin zu einem Europa-College, wo die Ab­solventen der interkulturellen Schule ihre Ausbildung fort­setzen könnten.

Zu den Autoren: Juliette Norbron ist Lehrerin für Englisch, Deutsch und Kunst. Slava Rozentuller ist Schauspieler und Theaterpädagoge aus Russland und unterrichtete in Moskau, New York, jetzt als freier Künstler an Schulen und pädagogischen Hochschulen in Deutschland. Seit Sommer 2010 leiten sie das White Elephant Theater in Saarbrücken. www.interkulturelles-theater-sb.de

Die Autoren freuen sich über einen Austausch zu den Themen »Literatur und Theater« oder »Interkulturelle Schule« und bieten ihre Mitwirkung bei entsprechenden Projekten an.