Raus aus der esoterischen Schmuddelecke

Leonhard Weiss

Auffällig dabei: Während Elemente der waldorfpädagogischen Praxis (Epochen, Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse, künstlerisch-praktische Ausrichtung, Notenverzicht …) durchaus gewürdigt werden, stoßen ihre theoretischen, anthropologischen Grundlagen meist auf Ablehnung oder werden als befremdlich unwissenschaftlich kritisiert. Einen wichtigen Beitrag zur Befreiung der Waldorfpädagogik aus der »esoterischen Schmuddelecke«, in der sie sich aus Sicht der Erziehungswissenschaft lange befand, leistet das neue »Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft«. Auf über tausend Seiten werden darin Grundlagen, Elemente, Möglichkeiten und auch Hindernisse einer erziehungswissenschaftlichen Rezeption der Waldorfpädagogik dargestellt und diskutiert. Ziel des Buches ist es nicht, wie Herausgeber Jost Schieren betont, eine wissenschaft­liche Basis der Waldorfpädagogik zu liefern, oder zu diskutieren, ob die Waldorfpädagogik wissenschaftlich ist, sondern sie »durchgängig wissenschaftlich zu behandeln« und ihre Theorie »einer wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich zu machen«. Dafür werden ihre Grundlagen im Kontext erziehungswissenschaftlicher Disziplinen wie Anthro­pologie, Entwicklungspsychologie, Didaktik, Erkenntnis-, Lern- und Professionstheorie rekonstruiert. Insgesamt 22 Autoren haben an der Publikation mitgearbeitet.

Dialog statt Glauben

Die angestrebte »Zugänglichkeit« verlangt seitens der Waldorfpädagogik wie auch der Erziehungswissenschaft Offenheit, (selbst)kritische Reflexivität und Diskussionsbereit- schaft. In der Vergangenheit gelang dies nicht immer. Etwa dort, wo, wie der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Nieke schreibt, »einige wenige, aber einflussreiche Autoren« die Waldorfpädagogik grundlegend »wegen ihrer Bindung an das, was sie für Anthroposophie halten« kritisierten. Wobei es sich Niekes Ansicht nach selten um eine fundierte Auseinandersetzung mit diesem Denksystem handelte, sondern vieles »unsystematisch zusammengelesen und ohne die gebotene hermeneutische Sorgfalt verwendet« worden sei. Doch auch auf Seiten der Waldorfpädagogik gab und gibt es Hindernisse einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Einige davon benennt Johannes Kiersch prägnant: »Für gläubige Anthroposophen ist die Offenbarung höherer Wahrheiten durch Steiner, den Eingeweihten, für längere Zeit hinreichend abgeschlossen […] Das verschafft der gläubigen Gemeinde Daseinssicherheit, ein anheimelndes Gefühl der Zusammengehörigkeit und praktische Effizienz.« Mit in diesem Sinne Gläubigen ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht kein Diskurs zu führen – auch mangels Interesse auf beiden Seiten. Dass auch ein anderer Zugang zu Steiners philosophischen, anthropologischen, anthroposophischen und pädagogischen Werken möglich ist, macht das Handbuch auf beeindruckende Weise deutlich. Dabei ist es selbstverständlich nur ein – aber sehr wesentlicher – Teil einer sich seit rund zwanzig Jahren vollziehenden Veränderung innerhalb der Waldorfbewegung, hin zu einer neuen »Forschungs- und Wissenschaftskultur«.

Anthropologie als Heuristik

Angesichts der Vorbehalte gegenüber den Grundlagen der Waldorfpädagogik kommt den Abschnitten über Anthropologie und Entwicklungspsychologie besondere Relevanz und Brisanz zu. Erscheinen doch viele waldorfpädagogische Begriffe im Kontext gegenwärtiger Erziehungswissenschaft und Pädagogischer Anthropologie kaum diskutierbar. Nicht nur wegen ihres esoterischen Hintergrunds, sondern auch, weil im Rahmen einer sich weitgehend als historisch verstehenden Pädagogischen Anthropologie allgemeinen Aussagen über das menschliche Wesen oder die kindliche Entwicklung generell mit Skepsis begegnet wird. Allerdings eröffnet, wie der Erziehungswissenschaftler Christian Rittelmeyer schreibt, gerade die damit verbundene Offenheit der Pädagogischen Anthropologie »eine Chance, über die waldorftypischen anthropologischen Anschauungen ins Gespräch zu kommen, wenn nur ein wissenschaftlich akzeptabler Zugang vorgestellt würde«.

Ein solcher Zugang könnte nach Rittelmeyer darin bestehen, anthroposophische Konzepte, »nicht mit Absolutheits-Anspruch vorzustellen, sondern als eine mögliche, heuristisch interessante Betrachtung des Menschen«. Anthroposophische Termini dafür zu nutzen, »den lebendigen Wandel ›des Menschen‹, seine unerschöpflich vielfältige Phänomenologie wahrzunehmen lernen«, dafür plädiert Rittelmeyer und schlägt damit einen Umgang mit anthropologischen Konzepten vor, der im Handbuch an vielen Stellen explizit oder implizit anzutreffen ist.

So empfiehlt etwa Schieren ein Verständnis der Steinerschen Anthropologie als »phänomenologisch-funktionale Anthropologie«, deren Aussagen immer »beobachtungsbegründet und damit phänomenologisch einlösbar« seien und die – wie ergänzt werden kann – dadurch pädagogisch fruchtbar werden können. Ein Beispiel dafür findet sich in einem Beitrag von Peter Loebell, der Steiners Aussagen über die »Geburten« der »Wesensglieder« als pädagogische Aufforderungen liest, »›Mutterhüllen‹ für die verletzlichen, noch nicht emanzipierten Kräfte der ungeborenen Wesensglieder« zu schaffen. Das damit anklingende Motiv einer Übersetzung von Anthropologie in pädagogische Handlungen wird von Albert Schmelzer ausgeführt, der zeigt, wie die »Menschenkunde« für Waldorflehrer nicht einengendes Dogma, sondern Quelle von Orientierung und Inspiration sein kann.

»Work in progress« – von Anfang an

Entscheidendes Verdienst des neuen Handbuchs kann es sein, dem Vorwurf entgegenzutreten, die Waldorfpädagogik beruhe auf einem dogmatischen Umgang mit Steiners Gedanken und sei daher eine monolithische und veränderungsresistente Bewegung.

Dagegen machen die methodisch wie konzeptionell unterschiedlichen Beiträge des Bandes die Pluralität und Qualität der bereits etablierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit und innerhalb der Waldorfpädagogik deutlich und zeigen vor allem, dass Waldorfpädagogik letztlich nur als »work in progress« (Schieren) oder als »beständige Suchbewegung« (Loebell) zu verstehen ist – und zwar nicht nur heute, sondern schon seit ihrer Gründung; schließlich werde, so Kiersch, oft übersehen, »wie wenig ideologisch festgelegt die erste Waldorfschule während ihrer Aufbauphase« arbeitete.

Diese Offenheit weiterzutragen und weiterzuentwickeln, dazu kann das neue Handbuch beitragen. Es ist zu hoffen, dass es intensiv gelesen wird – innerhalb der Waldorfbewegung und in der Erziehungswissenschaft, sodass auch die wissen­schaftliche Bearbeitung dieser Pädagogik im besten Sinne ein »work in progress« bleibt. Eine wichtige Basis dafür liegt nun jedenfalls vor.

Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft, geb., 1.016 S., EUR 49,95, Beltz Juventa, Weinheim, Basel 2016

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