Rudolf Steiner im Spiegel neuer Biographien

Gerhard Wehr

Offensichtlich ist Steiners vielseitige Lebensleistung nicht wenigen Zeitgenossen wichtig genug, um den Stadien seines Werdens und Wirkens nachzugehen und sie unter die prüfende Lupe zu legen. Das kann nicht verwundern, denn die Zahl derer wächst weltweit, die den alternativen Charakter der Waldorfpädagogik schätzen, sich biologisch-dynamisch ernähren, auf anthroposophischer Grundlage arbeitende Medizin und Pharmazie nutzen und einer Reihe weiterer auf Kulturerneuerung setzenden Initiativen Beachtung zollen. 

Ein Lebensreformer 

Es versteht sich, dass Heiner Ullrich, in Mainz lehrender Erziehungswissenschaftler, in Rudolf Steiner in erster Linie den Initiator und Lehrer der Waldorfschule sieht. Seine Darstellung legt er so an, dass dessen »Lehre« letztlich auf eine innovative Erziehungskunst hinausläuft. Biographisch betrachtet ist dieser Ansatz gerechtfertigt, überblickt man die einzelnen Lebensabschnitte Steiners: Am Anfang die mehrjährige Tätigkeit als Hauslehrer in Wien, dann die Arbeiterbildungsschule während der Berliner Zeit, unmittelbar daran anschließend die über zweieinhalb Jahrzehnte sich erstreckende Aufgabe als spiritueller Lehrer, bis hin zu den Unterweisungen für die am Goetheanum-Bau beschäftigten Arbeiter. Die Entwicklung der Stuttgarter Waldorfschule einschließlich der heilpädagogischen Ansätze darf als Krönung dieses pädagogischen Werdeprozesses angesehen werden. In der Waldorfpädagogik erblickt Ullrich denn auch den »größten Erfolg« des Steinerschen Schaffens. Dieser Erfolg resultiert aus dem goetheanistisch-erkenntnistheoretischen Frühwerk, aus dem spirituell ausgerichteten Welt- und Menschenbild, angereichert und erweitert durch die Ergebnisse, wie sie die »angewandte Anthroposophie« aufzuweisen hat. So zögert Ullrich nicht, gleichsam präludierend festzu­halten: »Kaum eine andere intellektuelle Persönlichkeit des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hat eine so starke und immer noch zunehmende erziehungs- und lebensreformerische Wirkung entfaltet … wie Rudolf Steiner.« Einschränkend ist freilich hinzugefügt, dass die Beachtung seines Werks in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als »vergleichsweise gering« zu veranschlagen sei.

Dass er selbst zu denen gehöre, die sich kritisch, keinesfalls aber polemisch verhalten, gibt der Mainzer Professor vorweg ebenfalls zu erkennen. Respekt und sachliche Anerkennung des Geleisteten steht für ihn außer Frage. Dabei hält sich Ullrich mit seinen prinzipiellen Einwänden keinesfalls zurück. Dass die Forschung zur Anthroposophie bis heute »unübersichtlich und unzulänglich« sei, führt er einerseits auf den betont apologetisch bis hagiographisch gearteten Charakter anthroposophischer Literatur zurück, andererseits auf die »bislang größtenteils polemische Art der kritischen Aus­einandersetzung« mit der Anthroposophie. Indem Ullrich die »anthroposophische Geisteswissenschaft« aus der Perspektive einer modernen Wissenschaftskonzeption betrachtet, kommt er zu dem Ergebnis, dass sich Steiner »vor-wissenschaftlicher« Methoden bediene. Dazu rechnet er zum Beispiel das Bedürfnis einer Unmittelbarkeit in der Anschauung von Phänomenen und die Bemühung, zu einer ganzheit­lichen Betrachtung zu gelangen. Demnach empfehle es sich, »abstrakten Modellen und quantitativen Verfahren« den Vorzug zu geben. Das entspräche aber dem Verzicht auf ein lebendiges, bewegliches Denken, letztlich auf all das, was der Waldorfschule ihr besonderes, dem Entwicklungs­geschehen des Kindes gemäßes Unterrichten ermöglicht!

Zur weiteren, letztlich abqualifizierenden Wesensbestimmung der Anthroposophie zieht Ullrich Begriffe wie »Mythos«, »Gnosis« und »Mystik« heran. Nun bedarf es jedoch keines besonderen Hinweises darauf, wie vieldeutig diese Bezeichnungen eo ipso sind, ganz abgesehen von den unterschiedlichen geistes- und bewusstseinsgeschichtlichen sowie epochenspezifischen Zusammenhängen, in denen von einem solchen Denken gesprochen wird. Beispielsweise entspricht das Mythische (nach Jean Gebser) einer Bewusstseinsart, die dem Mental-Rationalen vorausgeht, die aber zusammen mit anderen Seelenmöglichkeiten in ein im Werden begriffenes integrales Bewusstsein einzubringen sei. Derartige Bezeichnungen eignen sich kaum für eine sachgemäße Einschätzung der Anthroposophie, mag diese Etikettierung in apologetischer Absicht auch noch so oft wiederholt werden.

Ullrich hebt hervor, dass der wissenschaftliche Diskurs über Werk und Wirkung Steiners nicht nur intensiver geworden sei. Abgesehen von manchem »Befremdlichen« haben sich die praktischen Anregungen »als ungleich stärker erwiesen«. Das sei nicht zuletzt hinsichtlich innovativer Ideen geschehen, deren Fruchtbarkeit gerade angesichts heutiger Herausforderungen und gesellschaftlicher Defizite außer Frage stehe. Aufs Ganze gesehen habe Rudolf Steiner »lebensreformerische  Impulse« ausgelöst, die bis heute eine »eindrucksvolle Wirkung entfaltet haben«, auch wenn es nicht gelang, das spezifische Waldorf-Element ins allgemeine Schulwesen zu transferieren. 

Ein Prophet 

Dem Lebensreformer Steiner, dem Ullrich ein »vorwissenschaftliches« Denken unterstellt, heftet Miriam Gebhardt das Etikett eines »modernen Propheten« an. Mit leichter, journalistisch geübter Feder schildert sie das Leben dessen, der aus dem niederösterreichischen »Bandlkramerland« kam, ein »fahrender Händler selbstgefertigter Wahrheiten«. Entpuppt habe er sich als ein der Wandlung fähiges »Chamäleon«. Seine »überwiegend verquaste« Philosophie habe er in »courtsmahlerischer« Sprache offeriert. Nobler ausgedrückt: »Steiner war der modernste Prophet des bürger­lichen Zeitalters«. Und weil die gefällig parlierende Autorin bei ihrer Leserschaft die Kenntnis intellektueller Biographien, wie sie sagt, voraussetzt, Steiners Lehren ihrer Überzeugung nach ohnehin »unfassbar, eine eindeutige und richtige Interpretation seines Werkes undenkbar« seien, hält sie es für geboten, ihn zum »Propheten« zu erheben. Nein, nicht zu »dem« Propheten. Denn auch er sei »nur einer von vielen« gewesen. 

Und weil Frau Gebhardt in ihrer Darstellung diesen cantus firmus durchzuhalten bemüht ist, trägt sie zusammen, was sich auf Prophetie zu reimen scheint. Dazu gehören ihrer Zuordnung gemäß »Geisterseher und Wunderwirker«, bisweilen in Personalunion mit »barfüßigen Propheten«. Entsprechend ausführlich referiert sie über Spiritisten und Parapsychologen vor und nach 1900, etwa Albert von Schrenck-Notzing oder Carl du Prel, als lasse sich Steiners Denk- und Erfahrungswelt speziell von ihresgleichen ableiten. Da müssen erstaunlicherweise angebliche »Konkurrenten« wie der freisinnige Theologe Johannes Müller oder der Sektengründer Joseph Weißenberg mit seiner Johannischen Kirche als Vergleichsmodelle herhalten. Dagegen figuriert z.B. Friedrich Rittelmeyer, der neben Müller zu nennen wäre, als »zerrissene Figur« und als »hochgradig kopf­lastiger Intellektueller«. Auch er ein »weiterer Anbieter auf dem Reformmarkt«. Welchen Rittelmeyer mag die Autorin wohl im Blick haben? Mit einem Wort: Miriam Gebhardt beliebt zu scherzen. Sehr ernst will diese Steiner-»Biographin« wohl nicht genommen werden. Einst sei der Begründer der Anthroposophie »im okkultistischen Spukschloss« gesessen. Heute wäre er »ein Dauergast im Fernsehstudio«. Welch eine Karriere nach 150 Jahren! 

»Die Biographie« 

Diese stolze Bezeichnung im Untertitel mag Helmut Zander gegenüber seinen Mitbiographen wohl mit Bravour verteidigen. Längst hat er sich durch sein – trotz heftiger Widerrede –  verdienstvolles Opus magnum »Anthroposophie in Deutschland« (2007) als Kenner eigener Prägung ausgewiesen. In weit ausholenden, dazu erwartungsgemäß materialreichen Kapiteln porträtiert er nunmehr den »charismatischen Querdenker« als Philosophen, Theosophen und schließlich als Praktiker, »der seiner unangepassten Grundsätze wegen bis heute Gläubige fasziniert und Gegner provoziert«.

Zander beleuchtet die spannungsvolle, innere wie äußere Dramatik in Steiners Werdegang insbesondere seiner Weimarer und Berliner Jahre, die den freien Publizisten bis an die Grenzen seiner Existenz führen, ihn dann aber bei der Adyar-Theosophie die ihm gemäße Basis für sein eigentliches Schaffen finden lassen – für eine begrenzte Zeit, versteht sich. Dabei vermisse ich eine wichtige Klarstellung, wonach Steiner entgegen seiner äußeren Verbindung mit den anglo-indischen sogenannten Theosophen letztlich in der christlich-abendländischen »Gottesweisheit« beheimatet war und durch eine Konversion um die Lebensmitte zum »Mysterium von Golgatha« fand. Das Damaskus-Erlebnis des Paulus trägt eben archetypische, auf den einstigen erklärten Nichtchristen anwendbare Züge. Zanders Darstellung ist verständlicherweise anders gepolt. Doch die von ihm zusammengetragenen Daten lassen sich durchaus als Stadien einer großen Kehre deuten. Ja, ist denn eine andere überhaupt denkbar? 

Steiners Leben samt dem Ertrag seiner Wirksamkeit ist einem von vielen Rätseln durchsetzten Kontinent vergleichbar. Darin sind sich die drei Betrachtenden weitgehend einig. Wer meint, ihn halbwegs durchmessen zu haben, sieht sich mit dem Eingeständnis konfrontiert: Da ist immer noch eine Dimension, noch dieser oder jener Bezirk, die sich weder kontextual noch durch kritikfreie Zustimmung einer gläubigen Anhängerschaft ermessen lassen. Denn, mit Nietzsche: »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt!« 

Zum Autor: Gerhard Wehr, Autor zahlreicher Werke zur Geistesgeschichte und Esoterik, befasst sich seit über fünf Jahrzehnten mit dem Leben und Werk Rudolf Steiners.

Sein neuestes Buch trägt den Titel »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen«: Lebensbilder der Mystik im 20. Jahrhundert