Ausgabe 03/24

Selbstfürsorge und Konfliktfähigkeit

Renee Herrnkind

Die 16 Frauen und Männer tauchen gerade aus der Zukunft wieder in die Gegenwart ein. Sie gehören zum vierten Jahrgang der Waldorf coachingclass und konnten sich nach der von Zukunftsforscher Matthias Horx entwickelten Methode der Regnose imaginierend damit beschäftigen, wie sie in einem Jahr erfüllt und selbstwirksam vor ihrer Klasse stehen werden. «Welche Bilder und Empfindungen sind bei dir aufgetaucht», will der systemische Coach Sebastian Sonntag wissen. Er baut sprachlich Brücken, das entstandene Bild so lebendig wie möglich zu gestalten. Wie sah das Zimmer aus, wie agierten die Kinder, wie hat es gerochen, was war zu hören? Künstlerisch gestaltet in Aquarellen oder Gedichten festigen die Berufseinsteiger der Waldorfwelt ihr Regnose-Bild. «In der Regnose projizieren wir uns selbst in die Zukunft. Dabei entsteht laut Matthias Horx ein dynamisches Zukunftsbewusstsein: Und die Erkenntnis, dass unsere innere Dimension die Zukunft in uns selbst erzeugt», berichtet Sonntag. Der 37-Jährige hat nach seinem Kunst/Pädagogik-Diplom an der Alanus Hochschule Erfüllung als Trainer und Experte für berufliche Persönlichkeitsentwicklung gefunden. Annasofie Schneider kennt er aus Studientagen. Sie bringt ihr Schauspieldiplom und ihren Master of Arts mit in den Unterricht an der Waldorfschule Sankt Augustin und engagiert sich intensiv in der Einarbeitung neuer Kolleg:innen. «Wir haben unsere Kompetenzen zusammengeführt», betonen die beiden. Und Lösungsansätze gefunden, der hohen Aussteigerquote bei Waldorflehrenden konstruktiv zu begegnen. Die Waldorf coachingclass, die in ihrer Startphase drei Jahre lang von der Waldorfstiftung unterstützt wurde, will ein Lernpfad sein, der den Weg ebnet für ein gesundes, erfülltes, sinnstiftendes Berufsleben. Ein Jahr lang stärken Selbstlernphasen im Wechsel mit Präsenz-Begegnungen, stabile Peergroups, Intervision mit kollegialer Beratung und Eins-zu-eins-Coachings im Video-Call die Teilnehmenden.

Sie kommen, weil ihnen Unterstützung im Kollegium fehlt, Elternabende, Selbstverwaltung und manchmal auch verkrustete Strukturen Energie rauben oder Zweifel an den eigenen Fähigkeiten für diesen aus Überzeugung und Liebe gewählten Beruf säen. Austausch in der Gemeinschaft mit Leidensgenoss:innen, Biographiearbeit, Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung durch das systemische Coaching und die ganzheitlich-humanistisch zentrierte Arbeitsweise der Referenten lassen die Berufseinsteiger:innen zu kompetenten Allroundern wachsen. Das behaupten nicht etwa die Gründer:innen Sonntag und Schneider, sondern das zeigt die aktuelle Evaluation durch den Ausbildungsrat im Bund der Freien Waldorfschulen. Fast 95 Prozent der Absolvent:innen geben Note 1 für die coachingclass und ihre Macher:innen, das ist eine traumhaft gute Weiterempfehlungsquote. Resilienz, Selbstfürsorge, authentisches Sprechen, optimierte Selbstorganisation, professionelles Zeitmanagement, Feedbackkompetenz und Konfliktfähigkeit stehen auf dem «Lehrplan» dieses neudeutsch «blended learning» genannten Angebots. «Ich habe meinen Werkzeugkoffer gut gefüllt. Die Themen sind alle relevant, die Bearbeitung hilfreich», so lauten die Feedbacks. Und besonders wichtig: «Die coachingclass ist kein Ersatz für das Lehrerseminar, sondern ein wirksames Instrument, um Burn-out und Resignation vorzubeugen,» lautet das einheitliche Urteil.

Sebastian Sonntag sieht das als Bestätigung für den eigenen Anspruch, Entwicklungspotentiale zu erkennen und Menschen zu ermutigen, diese eigenverantwortlich zu gestalten. Wer dadurch seine Wahlmöglichkeiten erhöht, steht im Unterricht anders vor den Schüler:innen. Gestärkt durch den sicheren Raum in der Gemeinschaft der coachingclass, wird das Einzelkämpfer:innengefühl kleiner und das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit größer. Das kommt an beim Gegenüber, ganz besonders bei den Jugendlichen ab Klasse 7, die austesten, wie weit sie gehen können. Kontrolle und Pochen auf Machtpositionen sind da nicht die passenden Antworten, sondern Authentizität. «Wenn ich mich nicht verunsichern lasse, im Kontakt bleibe trotz Widerstand und Provokation, verändert sich wirklich etwas beim Blick der jungen Menschen auf uns als Lehrende», bestätigen die Absolvent:innen. Wie wichtig eine stabile Beziehungsbasis ist, erleben die Einsteiger:innen ins Waldorflehrer:innen-Leben auch im Kontakt mit den Eltern. «Wenn da die Grundlagen nicht gut gelegt werden, zieht sich das belastend durch die gesamte Schulzeit», betont Annasofie Schneider. Sie schult die Teilnehmenden im bewussten Umgang mit ihrer Stimme – «eines der wichtigsten Instrumente der Lehrkraft». Sprachgestaltung spielt deshalb eine ebenso regelmäßige wie erfolgreiche Rolle im Coaching. Verhärtete Beziehungen zwischen Lehrenden und Eltern belasten beide Seiten und nutzen niemandem. Wie gut, wenn in der coachingclass geübt werden kann, Gespräche als wirkliche Begegnung zu gestalten. Wer gemeinsam auf die Kinder schaut aus den jeweiligen Erfahrungsräumen Zuhause und in der Schule, überwindet Positionen, in denen nur noch verhandelt wird, wer Recht hat. «Wir entwickeln Kompetenzen, eine Erziehungsgemeinschaft von Eltern und Lehrer:innen zu schaffen», benennt Sonntag die Zielrichtung für Austausch auf Augenhöhe mit echtem Interesse am Gegenüber. Wer Eltern als Expert:innen für ihre Kinder mitdenkt, wird sicherlich auch weniger bis ins Wochenende hinein durch Beschwerde-Mails belastet. Eltern haben dann dafür keinen Grund mehr. So etwas nennt man inzwischen «Win-win-Situation», und ein drittes «win» könnte für die Situation der Kinder hinzugefügt werden.

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