Sind Waldorfschüler interessierter als Schüler von Regelschulen?

Harald Erasmus

Ärgerlich nur, dass von PISA bis IGLU die Staatsschulen eine empirische Studie nach der anderen heranfahren, um die Wirksamkeit von schulischen Reformen aller Art zu bestätigen oder einzufordern. Das Nichtvorhandensein empirischer Studien im Waldorfschulbereich kann daher schnell den Eindruck erwecken, Waldorfschulen hätten etwas zu verbergen oder wollten sich notwendigen Erneuerungen verschließen.

Dabei sind empirische Studien gar nicht so schwierig. Sie können interessante Details ans Licht bringen und Denkanstöße für die Weiterentwicklung unserer Pädagogik liefern. Vor den Ergebnissen braucht sich die Waldorfschule  nicht zu fürchten; als klassische Reformschule hat sie schließlich viele Entwicklungen, die in der modernen Didaktik eingefordert werden, längst vorweggenommen.

Bereits bewährte und standardisierte Fragebögen stehen zu vielen interessanten Forschungsfeldern zur Verfügung. Etwas schwieriger gestaltet sich bei einer Befragung die Aufgabe, eine genügend große Anzahl an Rückläufen zu erhalten, die statistisch für eine repräsentative Erhebung reichen. Im vorliegenden Fall wurden 2100 Schülerinnen und Schüler an hessischen Waldorf- und Regelschulen befragt. Die Stichprobe erfasste alle Jahrgangsstufen ab Klasse 5 und bei den staatlichen Regelschulen alle Schulformen, um Verzerrungen zu vermeiden. Die Auswertung der Ergebnisse ist natürlich etwas mühsam und nur mit Hilfe gängiger Auswertungsprogramme wie »SPSS« zu bewerkstelligen. 

Wie steht es mit dem Weltinteresse? 

Ausgangspunkt der Befragung war das, was in Waldorfzusammenhängen als das »Weltinteresse« bezeichnet wird und von dem wir den Anspruch haben, dass es an der Waldorfschule in besonderen Maß gepflegt und erweckt wird. Eine Interessensstudie durchzuführen erscheint auch leichter, als die Befragten dazu zu bringen, Kenntnisse und Fähigkeiten offenzulegen; solch eine Kompetenzstudie hat zudem den Nachteil, dass man schnell in eine Leistungsdiskussion gerät – wie es im Falle von PISA geschehen ist – und eben andere Aspekte der Menschenbildung vernachlässigt. Die Frage nach dem Weltinteresse hingegen erscheint da unverfänglicher und ist doch, was eine pädagogische Binsenwahrheit darstellt, Voraussetzung für den Lernerfolg.

In kaum einem anderen Fach wird das Weltinteresse so direkt angesprochen wie im Fach Geographie. Obwohl man das Weltinteresse mit dem geographischen Interesse nicht hundertprozentig gleichsetzen kann, so ergibt sich doch eine sehr große Überschneidungsmenge. Ein Aspekt der inneren Begründung des Fachs Geographie in der Waldorfschule ist die Weltverbundenheit, die aus dem Weltinteresse erwachsen kann. So hat der Geographieunterricht an der Waldorfschule nicht nur die Aufgabe, geographisches Faktenwissen zu vermitteln, sondern päda­gogisch gesehen dem jungen Menschen »Erdenfestigkeit« zu geben – dies jedoch nicht im egoistischen Sinn der Lebensbehauptung, sondern im altruistischen Sinn eines offenen Weltinteresses. Dazu sagte Rudolf Steiner in seinem Vortrag »Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung«: »Ein Mensch, mit dem wir offen Geographie treiben, steht liebevoller seinen Nebenmenschen gegenüber als ein solcher, der nicht das Daneben im Raum erlernt. Er lernt das Danebenstehen neben den anderen Menschen, er berücksichtigt die anderen. Diese Dinge gehen stark in die moralische Bildung hinüber, und das Zurückdrängen der Geographie bedeutet nichts als eine Aversion gegen die Nächstenliebe …«

Um die Ergebnisse der empirischen Studie zusammenzufassen, kann zunächst einmal festgestellt werden, dass das geographische Gesamtinteresse sowie das Interesse an geographischen Themen und Regionen bei den Waldorfschülern bei beinahe allen Subskalen und Items höher liegt als das Interesse bei den Regelschülern. Das Interessenprofil beider Schülergruppen ist jedoch gleich bis sehr ähnlich: Bei den geographischen Themenbereichen, Themen und Einzel-Regionen finden sich überwiegend gleiche Spitzenreiter und Schlusslichter. Allgemein ist das Interesse an eher sozialgeographischen Themen bei den Waldorfschülern höher platziert als bei den Regelschülern. Dies stimmt mit der oben erwähnten Zielsetzung der Waldorfschulen überein, das Weltinteresse und das Interesse an den Lebensverhältnissen der Mitmenschen zu stärken. Nachdenklich sollte es jedoch die Waldorfschulen machen, dass die Umweltthemen keinen so großen Anklang finden – obwohl diese Thematik doch sowohl im Waldorflehrplan als auch im Schulalltag (von der Gestaltung der Schulanlage bis zur Mittagsverpflegung) immer wieder in das Bewusstsein der Schüler gerückt wird. Kann hier eine Übersättigung vermutet werden?

Im Bereich »Arbeitsweisen« ist das Interessenprofil bei beiden Schülergruppen grundsätzlich sehr ähnlich; auffallend ist das geringere Interesse der Waldorfschüler am Item »Schulbücher« – die Methode, Schulbücher in Form der »Epochenhefte« selbst anzufertigen, scheint also, allen Unkenrufen zum Trotz, Akzeptanz bei den Schülern zu finden, so dass das Interesse an vorgegebenen Büchern geringer ist.

Die vorliegende Studie ist bereits zehn Jahre alt, doch wurden ihre Ergebnisse erst jetzt einem größeren Fachpublikum zugänglich gemacht. 

Literatur:

H. Erasmus, G. Obermaier: »Sind Waldorfschüler interessierter als Schüler von Regelschulen? Eine empirische Untersuchung der Schülerinteressen am Beispiel Hessen.« In: I. Hemmer, M. Hemmer (Hrsg.): Schülerinteressen an Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Geographiedidaktische Forschungen, Bd. 46, Weingarten 2010