Mut zum Ungewissen

Henning Kullak-Ublick

Es sind nicht die Terroristen, die uns Angst einjagen, sie benutzen sie nur. Es ist die Angst vor dem Unbekannten, Unerwarteten, Unversicherten. Es ist die Angst vor einer Welt, die sich zu schnell verändert. Einer Welt, in der sich die vor Kurzem noch beklagte Informationsflut längst zum Meinungstsunami ausgewachsen hat, in der Orientierung mangels fester Haltepunkte immer schwieriger wird. Die Angst verändert uns. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Sicherheit über Bürgerrechte geht, von den allgegenwärtigen Kameras im öffentlichen Raum über die Erfassung von Daten, für deren Schutz die Menschen vor gar nicht langer Zeit mancherorts noch ihr Leben riskiert haben, bis zu dem Standardisierungsirrsinn im Bildungswesen, der längst an die Stelle der Debatte über die »Schule der Zukunft« getreten ist. Nicht die geteilte Vision einer lebendigen, mündigen Bürgerdemokratie bestimmt heute das öffentliche Leben, sondern die Unsicherheitsvermeidung, sei es durch Grenzen, Sanktionen oder Standardisierungen.

Kurzum: Die Zeiten sind wieder einmal richtig interessant! Und die Frage stellt sich, wie wir unseren Kindern beibringen, gestaltend einzugreifen, statt bloß angepasst mitzuschwimmen oder gar zu resignieren. Sie ahnen es vermutlich schon: Wir müssen es erst selber tun. Aber wie enthetzen und entängstigen wir uns, wo liegen unsere unbegrenzten Möglichkeiten?

Ende März versammelten sich fast 1.000 Waldorfpädagogen aus 48 Ländern am Goetheanum zur 10. Weltlehrertagung, um sich über brennende pädagogische Zeitfragen auszutauschen und fachlich fortzubilden. Allein diese Erfahrung war schon ein Teil der Antwort, weil die Entdeckung, wie diese vielen Menschen mit all ihren kulturellen, ethnischen und geografischen Unterschieden an den gleichen Fragen arbeiten, Mut machte, die eigene Arbeit voranzubringen. Die Beiträge aus allen Teilen der Welt ließen das Potenzial einer Pädagogik, die nicht ein abgegrenztes Ziel, sondern den werdenden Menschen selbst in den Mittelpunkt stellt, zu einem fast existenziellen Erlebnis werden, weil diese Tagung nicht das Trennende, sondern das Verbindende unseres Menschseins zum Vorschein brachte. Der Blick über den eigenen Zaun erwies sich als ein Quell der Zuversicht, den niemand so schnell wieder vergessen wird.

Oft ging es dabei um das Schaffen von Orten der Entschleunigung, der emotionalen Sicherheit und der Begegnung, innerhalb derer die Kinder und Jugendlichen ihre Beobachtungen, Fragen, Urteile und Erkenntnisse erproben und entdecken können. Erst die Erfahrung, dass wir über uns hinauswachsen, kann uns die Sicherheit für unsere Zeit geben, weil sie der Unsicherheit nicht ausweicht, sondern kreativ mit ihr umgeht.

2000 Jahre vor Hilde Domin setzte Petrus seine Füße auf das Wasser des Sees Genezareth und es trug ihn. Erst, als ihn die Furcht vor dem Versinken überkam, versank er auch. Alles eine Frage der Übung …

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.