Berliner Waldorflehrer ist »Lehrer des Jahres« 2011

Susanne Becker | Herzlichen Glückwunsch zum deutschen Lehrerpreis. – Wie fühlen Sie sich als bester Lehrer Deutschlands?

Ralf Krueger | Vielen Dank! Für mich war das eine absolute Überraschung. Es gab eine bundesweite Ausschreibung im Schülermagazin »Der Spießer«. Schüler von Abschlussklassen sollten eine Lehrerpersönlichkeit charakterisieren, die ihren Weg besonders geprägt hat. Eine Schülerin aus meiner ersten Klasse an der Waldorfschule Berlin-Havelhöhe lernte Biologie fürs Abitur und kam gerade nicht so richtig weiter. Ja, und dann hat sie in diesem Magazin geblättert und sich spontan entschlossen, etwas über mich zu schreiben und einzureichen. So wurde die Jury auf mich aufmerksam.

SB | Was ist ein guter Lehrer? Wussten Sie, dass Sie einer sind?

RK | Eigentlich ja. Das spürt man. Ich versuche, einen guten und intensiven Kontakt zu den Schülern aufzubauen. Man merkt sofort, wie sie auf einen reagieren und ob sie einen respektieren. Für mich ist ein guter Lehrer jemand mit Fachkompetenz, der die Schüler an die Hand nehmen kann mit dem, was er zu sagen hat. Er ist aber auch den Schülern gegenüber offen. Er nimmt sie als Individuen und Persönlichkeiten ernst.

Ich glaube, dass man mit dem Fachlichen genauso viel vermittelt, wie mit der Art, wie man sich gibt. Ich versuche immer, in meinem Unterricht Dinge neu zu lesen, neues Material zu nehmen. Wenn ich das Gleiche mache wie im letzten Jahr, dann wird es Routine und weniger lebendig. Ich möchte mir selber eine gewisse Begeisterungsfähigkeit erhalten und das Gefühl, dass ich an mir selber arbeiten muss, dadurch wird es auch für die Schüler spannender.

SB | Wie vermitteln Sie den Stoff, damit er für die Schüler interessant ist? Machen Sie Frontalunterricht?

RK | Ich mische und wechsle. Frontalunterricht ist gut, wenn man aktiv Wissen hineingibt, aber nur Frontalunterricht wäre nicht in Ordnung. Im Hauptunterricht sind hundert Minuten zu füllen, und da muss man rhythmisieren. Ich versuche, die Schüler zu überraschen, Dinge von einer anderen Perspektive aus anzusehen. Wenn ich eine Goethe-Epoche gebe, dann stelle ich Goethe nicht aufs Denkmal und sage, wie toll er ist, sondern ich schubse ihn erst einmal runter, lasse ihn kaputt gehen und füge ihn dann wieder zusammen.

SB | Sie schauen sich beispielsweise das Leben einer historischen Persönlichkeit an und gehen von den Schwachstellen und Brüchen aus?

RK | Genau. Vor allem wie sie mit ihren eigenen Widersprüchen umgeht. Das ist das, was die Schüler interessiert. Denn man merkt ja, wie man durch Normen, die Medien, die Gesellschaft festgelegt ist.

Auf der anderen Seite gibt es das eigene Ich, das man überhaupt erst entdecken muss. Wer bin ich eigentlich? Genüge ich diesen Normen? Wie gehe ich mit Schwierigkeiten um? Wenn ich das anhand von Biographien berühmter Leute sehen kann, hilft das sehr.

SB | Also kein Stoff, den Sie routiniert durchziehen, sondern permanente Offenheit – auch gegenüber dem, was von den Schülern kommt. Ist das nicht stressig?

RK | Nein. Es würde mir sonst keinen Spaß machen. Im Ideal­fall ist es ja ein Dialog, der einen selbst bereichert. Wenn alles nur von mir käme, wäre mir das zu einseitig.

SB | Sie sprachen vorhin von Rhythmus. Wie sieht das aus?

RK | Ich arbeite viel mit Lyrik, mache aber auch Körperübungen: Montagmorgens erstmal strecken und wach werden.

SB | Finden die Schüler Sie lustig?

RK | Die Schüler amüsieren sich über meine Tafelzeichnungen, denn ich kann eigentlich nicht besonders gut zeichnen. Ich mach’ mir da aber nichts draus, sondern zeichne einfach, entwickle etwas aus Strichen und da kommen teilweise recht witzige Ergebnisse heraus. Die hatten dann in der Klasse schon Kultstatus.

SB | Was ist ihr Lieblingsstoff in Deutsch?

RK | Ich mag immer das, womit ich mich gerade auseinandersetze. Aber was ich schon sehr schätze ist Goethes Faust. Das ist ein Werk, wo man jedes Mal eine kleine Schicht tiefer kommt. Parzival finde ich genauso toll. Aber wenn ich Frisch oder Brecht oder Thomas Mann mache, lasse ich mich da auch begeistern.

SB | Sind Sie frei in der Stoffwahl?

RK | Ja, das ist für mich einer der großen Vorteile an Waldorfschulen. Es gibt ein paar Sachen, die traditionell gemacht werden und die auch sinnvoll sind. Aber wenn man darüber nachdenkt, was man will und warum man was macht, dann kann man sehr frei wählen. Das schätze ich sehr, dass man nicht an die staatlichen Rahmenpläne gebunden ist, wo man den Stoff abarbeiten muss.

SB | Sie waren nicht immer Lehrer. Vor zehn Jahren haben Sie die Weiterbildung hier in Berlin am Waldorfseminar absolviert.

RK | Ich habe vorher wissenschaftlich gearbeitet und während des Studiums Stadt- und Museumsführungen gemacht. Dabei habe ich festgestellt, dass ich mit Schulklassen und Jugendlichen gut zurechtkam. Da hat es mich gereizt, kontinuierlich pädagogisch zu arbeiten.

SB | War Ihnen von Anfang an klar, dass Sie in der Oberstufe unterrichten wollten?

RK | Ich liebe die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Schülern und das geht in der Oberstufe mit dem Stoff viel besser.

SB | Was ist in der Oberstufe einer Waldorfschule anders als an anderen Schulen?

RK | Im Grunde geht es in der Oberstufe darum, die Schüler zur eigenen Urteilsbildung zu befähigen. Das ist in der heutigen Gesellschaft ohnehin wichtig. Urteile werden immer sofort gefällt und wenn es gut geht, wird hinterher darüber nachgedacht. Mir ist es wichtig, dass man lernt, sich ein Phänomen erst einmal anzuschauen und dann auf den unterschiedlichsten Wegen zu einem Urteil zu kommen. Da kann man klassen- und themenübergreifend sehr viel machen. Alles ist immer zerstückelt. In Kunstgeschichte macht man Geschichte der Kunst, in Musik Geschichte der Musik, in Deutsch Geschichte der Literatur … Die Schüler erleben es nicht als etwas Zusammengehöriges. Ich möchte viel mehr übergreifende Erlebensmöglichkeiten finden, die alle Sinne einschließen, damit möglichst viele Schüler ein Bewusstsein davon entwickeln, wie die Dinge im Zusammenhang stehen.

SB | Welche Folgen hatte die Auszeichnung zum besten Lehrer?

RK | Ich erfahre seither viel Aufmerksamkeit. Die Schule und die Schüler sind stolz, dass sie einen Lehrer haben, der eine solche Auszeichnung gewonnen hat. Da wir eine kleine Schule am Stadtrand Berlins sind und auch um genügend Schüler kämpfen müssen, ist es natürlich auch eine gute Werbung für die Schule.

SB | Würden Sie wieder Waldorflehrer werden?

RK | Ja. Ich mag die Freiheit, dass man sich überlegen kann, was für die Klasse richtig ist und aus diesem Impuls entscheiden kann. Es birgt aber die Gefahr, dass man als Lehrer keine Grenzen zieht und sich verbraucht. Da muss man lernen, aufzupassen.

SB | Sind Waldorflehrer tendenziell Workaholics?

RK | Die guten schon.

SB | Sind Sie einer?

RK | Eigentlich arbeitet man immer. Selbst wenn ich sozusagen privat lese. Von daher lässt sich da wirklich schwer ein Trennstrich ziehen. Ich leiste mir den Luxus, nur drei Viertel zu arbeiten. Dadurch habe ich Reserve und kann den Unterricht gut vorbereiten. Wenn man hundert Prozent arbeitet, kommt man schnell in eine Situation, wo man allem hinterher rennt.

SB | Eigentlich wundert es mich, dass Sie unter den Preisträgern der einzige Waldorflehrer sind.

RK | Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht überhaupt der einzige Waldorflehrer bin, der jemals diesen Preis bekommen hat. Es gibt zwei Kategorien dieses Preises: es nominieren Schüler Lehrer oder Lehrer oder Schulen reichen fachübergreifende Projekte ein. Auch da waren keine Waldorfschulen dabei, obwohl sie sich im Grunde anbieten. Ich träume seit Jahren davon, einmal eine Goethe-Epoche mit einem Naturwissenschaftler gemeinsam zu gestalten oder eine Politik-Epoche mit einem Eurythmisten. So etwas hätte dann bestimmt eine Chance.

Die Fragen stellte Susanne Becker.

Link: www.lehrerpreis.de