Ausgabe 11/24

Ablösung und Ichwerdung im Rubikon

Axel Föller-Mancini

Manchmal findet man in Internetforen verzweifelte Eltern, die ihre neun- oder zehnjährige Tochter seit Neuestem unausstehlich finden: Sie kapselt sich ab, zieht sich aus familiären Aktivitäten zurück, kritisiert alles und jeden und ist hin und wieder unerklärlich traurig. Fragt die Mutter dann nach einem Grund für das Tränenrinnsal, das sich über die Wange zieht, kommt vielleicht ein Satz wie: «Dumme Frage, das weiß ich auch nicht!» Es gibt dann Eltern, die ihren geplagten Mitstreiter:innen zurückschreiben und ihnen erklären, das sei noch nicht die Pubertät, aber Anthroposophen würden das Rubikon nennen. Und tatsächlich hat dieser Begriff inzwischen eine weite Verbreitung erlangt. Mit dem Rubikon bezeichnet Rudolf Steiner einen Entwicklungspunkt, der in der Spanne ungefähr zwischen dem neunten und dem elften Lebensjahr stattfindet. Als Namensgeber diente der norditalienische Grenzfluss Rubicone, den Julius Cäsar 49 vor Christus entgegen den Weisungen des Römischen Senats mit seinem Heer überschritt. Das Überschreiten bedeutete eine Kriegserklärung, nach der es kein Zurück mehr geben konnte – was Cäsar mit den berühmten Worten «Alea acta est!» (Latein für «Der Würfel ist gefallen!») kommentierte. 

Einbahnstraße Rubikon


Rudolf Steiner wählte also eine Metapher für jene Zeitspanne, in der die Kinder auch einen Übergang erleben. Dieser ist spannungsreich, ja krisenhaft. In der Mitte der Kindheit sieht Steiner einen Einschnitt, der zu einem vertieften Ichgefühl führt. Nachdem das Kind dann diese spannungsreiche Phase durchlebt hat, kehrt es – bildlich gesprochen – nicht mehr dorthin zurück, wo es einmal herkam: in die wohlige und vertraute Sphäre frühkindlicher Mentalität. Dort konnte es sich nicht nur von Fantasiewelten und Märchen verzaubern lassen, indem es sich auf deren Bilder und Geschichten einließ; es konnte mit seinen Vorstellungen die Gegenstandswelt auch aktiv gestalten, sodass diese auf Fragen zu antworten schien. Eltern wie auch Pädagog:innen sind immer wieder erstaunt darüber, in welchem Maße Kleinkinder bereit sind, ihre Fantasie von Gestalten und Wesen bevölkern zu lassen. Dabei entspringen diese ja nicht einfach der inneren kindlichen Vorstellung; zunächst müssen sie von außen in Form von Geschichten, Mythen, Märchen herangetragen werden. Die fast distanzlose Öffnung diesen Welten gegenüber charakterisiert aber ein grundsätzliches Ich-Welt-Verhältnis: so wenig wie ein Ich schon abgegrenzt vorhanden und tätig ist, so wenig ist die Welt in ihren Konturen und Gesetzen festgelegt.

Atemreife und erste Identitätssuche


Der Eintritt in die mittlere Kindheit bewirkt nun einen dramatischen Abgrenzungsimpuls. Die Kinder ringen mit biologisch-rhythmischen Veränderungsprozessen und dieses aufrührende Geschehen spiegelt sich im seelischen Erleben wider. Als Beleg dafür führen Mediziner:innen das sich verändernde Verhältnis von Atmung und Blutzirkulation an. Ein stabiles Gleichgewicht von ungefähr 18 Atemzügen zu zirka 72 Pulsschlägen bildet sich während des Rubikons erst heran. Das innere Gleichgewicht wird also in einem Prozess erst langsam austariert. Im Innenbereich der Seele kann das wie eine Krise erlebt werden. Ähnlich sucht das etwa zehnjährige Kind in seinem Verhältnis zur sozialen Mitwelt ein neues Gleichgewicht. Die vertraute Basis familiären Zusammenlebens betrachtet es jetzt mit einem befremdenden Blick, es beginnt ein Hinterfragen alles Gewohnten und auch Geliebten. Dabei macht es nicht einmal Halt vor sich selbst: «Seid ihr wirklich meine Eltern oder wurde ich vielleicht nach meiner Geburt vertauscht?» Im Rubikon vollzieht sich also ein neuer Schritt in der Identitätsbildung. Während die Trotzphase als pure erste Abgrenzung staunend von den Mitmenschen ertragen wird, türmt sich das Geschehen in der mittleren Kindheit mit großen Fragen auf, welche mit ungeahnter Wucht das kindliche Erleben berühren; es sind Fragen nach Leben und Tod, nach der eigenen Zukunft und Bestimmung. Aber Eltern sollten hier nicht besorgt sein: es geht auch eine Nummer kleiner. Der Arzt Hans Müller-Wiedemann hat den Rubikon als «Manifestation der Tätigkeit des Ich zwischen Kindheit und Jugend» beschrieben, «in der sich zum ersten Male in der menschlichen Biografie das Gefühlsleben des Kindes zwischen Vergangenheit und Zukunft entfaltet und Erfahrung schaffen will.» Dem Kind kommen dabei Beziehungserfahrungen aus der frühen Lebensphase zu Bewusstsein: Familie, Gefühle der Geborgenheit und festliche Ereignisse treten vielleicht in Erinnerungen auf und bilden einen Kontrast zu der Empfindung eines mehr isolierten Selbst. Beides, eine diffus gefühlte Vergangenheit und ein sich schärfer abhebendes Ichgefühl, führen zum ersten Befragen der eigenen Existenz.

Neugier und Weltentdeckung


Auf der Beziehungsebene geht dies einher mit dem Verblassen des Nachahmungstriebes, der das Kind in den ersten Lebensjahren in natürliche Lernprozesse einband. Der Nachahmungstrieb ist eng verwoben mit den Beziehungen, die das Kleinkind mit den Eltern und anderen nahen Personen auslebt. Diese wirken als natürliche Autoritäten; das, was sie vorleben, wird vom Kind einfach nachgeahmt – im Guten wie im Schlechten. Lässt der Nachahmungstrieb nach, dessen innere Qualität als träumend-imitierendes Mit-Tun beschrieben werden kann, erwachen in der Seele der Kinder nun Neugier und der Drang, die Welt und die Menschen im Umkreis schärfer in den Blick zu nehmen. Die Entwicklungspsychologin Doris Bischof-Köhler beschreibt, wie sich zehnjährige Kinder durch Beobachtung von Mimik, Verhalten und sprachlichen Äußerungen bereits sehr nuancierte und zum Teil widersprüchliche innere Perspektiven von Erwachsenen – auch unabhängig von sympathischen oder antipathischen Gefühlen – aneignen. Der Arzt Peter Selg drückt dies so aus: «Die Welt des Du – das Gegenüber als Anderes und Eigenes – wird erstmals Thema des Kindes.» Aber auch die eigenen Verhältnisse werden neu geordnet. So berichten Eltern mitunter irritiert, dass das Kinderzimmer oder der Platz für die Hausaufgaben gegenüber anderen Familienmitgliedern kenntlich gemacht und der Zugang durch ein an der Tür angebrachtes Schild reglementiert wird: «Bitte klopfen!» Die Orientierung an Gleichaltrigen und ihrem Umfeld beziehungsweise deren Interessen erhält einen sichtbaren Schub. Anregungen für das Entdecken und Zelebrieren eigener Impulse werden dabei gerne von Spielkamerad:innen übernommen. Insgesamt wird der kindliche, von der Familie geschützte Aktionsradius aufgebrochen und schrittweise erweitert. Dazu kann auch das eigenständige Organisieren von Terminen wie Zahnarztbesuch oder Einkauf gehören, wie die Mutter einer elfjährigen Tochter berichtete. In der Fantasie statten sie sich gerne mit Fähigkeiten aus, die sie später einmal erlangen mögen oder die dann keine Rolle mehr spielen: «Ich werde Astronautin und fliege zum Mond!»

Was Eltern tun können


Den Eltern kommt hier eine wichtige wahrnehmende und begleitende Funktion zu. Den Kindern widerfährt so etwas wie ein inneres Naturereignis, für das manchmal die Worte fehlen; entsprechend ist nicht ein rationales Wegerklären angebracht, sondern ein Übersetzen der kindlichen Ausdrucksformen beziehungsweise ein vorsichtiges Erkunden seiner Bedürftigkeit, auch und gerade dann, wenn alles auf Abwehr gestellt ist. Gerade im familiären Zusammenleben können Entwicklungsphasen, die auf Neuerungen drängen, irritierend sein. Ablöseprozesse erzeugen auf verschiedenen Ebenen Unruhe und Missverständnisse. Wenn man versteht, dass sie unausweichlich sind und die Individualisierung des Menschen maßgeblich fördern, dann wird man nach Wegen suchen, sie mitzugestalten.

Ambivalenz und Ablösung


Ablöseprozesse der mittleren Kindheit wie der Rubikon leben dabei in einer permanenten ambivalenten Spannung: sie drängen nach vorne und gleichzeitig leben sie von der Erinnerung an die bisherigen Beziehungsqualitäten und den sicheren Hafen. Dabei mitschwingende Phasen von Trauer können ein Hinweis darauf sein, dass der Zwiespalt schwer auszuhalten ist. Einerseits suchen Kinder dieses Alters ein neues, mehr kritisch-prüfendes Verhältnis zu ihren primären Bezugspersonen, andererseits wünschen sie sich in die Verzauberung zurück. Diese Ambivalenz zu sehen und durch Angebote des Sich-zur Verfügung-Stellens aufzufangen, ist von großer Bedeutung. Viele Fähigkeiten werden im Leben dadurch erlangt, dass man übt. Und Üben heißt einerseits, sich einen neuen Regelkanon anzueignen und seine geistigen und körperlichen Potenziale darauf auszurichten und andererseits, aus den anfänglichen Unzulänglichkeiten und Fehlern zu lernen. Fähigkeiten erobert man sich daher nur in Praxis und bei mitschwingender Beobachtung und Reflexion – sofern das Kleinkindalter überwunden ist.

Neue Horizonte


Die mittlere Kindheit ist in dieser Hinsicht wie ein Aufbruch in unbekannte Länder. In jeder Hinsicht erweitern sich die kognitiven und sozialen Möglichkeiten, was dazu führt, dass viele Modelle für die eigenen Interessen und Aktionsformen zur Verfügung stehen, die man ausprobieren könnte. Wenn Kinder im Alter von sieben Jahren über einen Grundwortschatz von zirka 27.000 Wörtern verfügen und dabei 5.000 Wörter aktiv benutzen, so sind es bei Zehn- bis Elfjährigen bereits 40.000 Wörter, die vorhanden sind. Damit einher geht ein gesteigertes sprachliches Können, das ein geschicktes Bewegen im sozialen Raum gewährleistet. Die Kinder möchten erleben, dass ihre Versuche, sich neue Räume anzueignen, ernst genommen werden. Gleichzeitig wollen sie die Sicherheitsgarantien nicht aufgeben, die sie beim zwischenzeitlichen Scheitern auffangen. Daher ist der pädagogische Raum, in dem Autonomie geübt werden kann, ein Experimentalraum. Das Vertrauen des Kindes in die Stabilisierung des eigenen neuen Könnens ist dann relativ groß, wenn sein Vorhandensein probeweise angenommen wird. Dabei ist der Als-ob-Raum immer für Korrekturen offen, was so viel heißt wie, dass das temporäre Scheitern in ihm nur ein relatives Scheitern ist. Sofern die verunsichernden Prozesse in der mittleren Kindheit als Ausdruck einer ersten, zaghaften Ichfindung aufgefasst und entsprechend begleitet werden, dürfte dieser Wendepunkt auch als Vorbereitung auf die nachfolgende Pubertät dienen.

Kommentare

Christian Seitz,

Als Kommentar hier eine kleine pädagogische Miniatur: An einem sonnigen Tag im Frühsommer war ich mit unserer ältesten Tochter, die damals noch den Kindergarten besuchte unterwegs und wir konnten einige Schwalben bei ihren kunstvollen Flügen zusehen. Da meinte sie: „Ich wollt‘ ich wäre auch einem Schwalbe!“ und sie sah sehnsuchtsvoll den Schwaben bei ihren eleganten Flugbewegungen zu. Nach einer Weile aber überlegte sie bei sich: „Aber dann müsste ich ja Würmer essen!“ Und mit einem Male schien ihr der Traum eine Schwalbe zu sein, nicht mehr ganz so erstrebenswert. Kamen wir im Verlauf der Zeit auf Vögel zu sprechen, sprach ich sie immer wieder mal auf ihren Traum an, selbst eine Schwalbe zu sein. Sie wollte zwar immer noch gerne ein Vogel sein, aber die Sache mit den Würmern vergällte ihr diesen Traum dann doch jedesmal.
So vergingen Jahre und sie besuchte inzwischen die 3. Klasse. Irgendwie kamen wir dann wieder einmal auf das Thema Vögel und deren Flugkünste zu sprechen und ich sprach sie auf ihren Wunsch an, ein Vogel zu sein. Das fände sie ganz toll, entgegnete sie und auf meinen Einwand mit den Würmern entgegnete sie: „Die würden mir als Vogel dann ja schmecken!“ Sie hatte den Rubikon des 9. Lebensjahres überschritten, der ihr ermöglichte die Welt und sich selbst von außen zu sehen.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.