Achtsamkeitstraining. Die Emil-Molt-Akademie in Berlin holt Knigge aus der Versenkung

Christian Baur

Die höchsten Hürden sind für die Azubis nicht mehr Mathe und Deutsch – hier scheinen die Ausbildungsbetriebe in Zeiten des Mitarbeitermangels zunehmend selbst bereit, ihre Lehrlinge in den Grundlagenfächern nachzuschulen. Doch »die Nase muss passen«, heißt es in einem Leitfaden der IHK für Bewerbergespräche: »Generell gilt: Methoden können erlernt werden, soziale Fähigkeiten sollten vorhanden sein.« Oberstes Ziel bei der Auswahl eines Azubis sei es, einen Eindruck von seinem Sozialverhalten zu gewinnen. Und das Handwerksblatt fragt sich besorgt: »Wie benimmt sich der Bewerber im Umgang mit Kunden?« Da kann eine Menge schief laufen, diese Erfahrung haben wir auch an der Emil-Molt-Akademie gemacht. Neben einer Fachoberschule für Wirtschaft und Soziales und einer Ausbildung zum Sozialassistenten bieten wir Ausbildungsgänge zum kaufmännischen Assistenten an.

Für viele unserer Schüler ist dies zwar in erster Linie die Durchgangsstation zur Fachoberschule – nur etwa ein Drittel stammt aus der Waldorf-Welt –, dennoch müssen sie in den Betrieben reüssieren. Im Verlauf der Praktika in den Betrieben wird schnell deutlich, wie unsicher viele Jugendliche auf dem betrieblichen Parkett sind. Wie verhalte ich mich richtig gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten? Wie viel Freiheit ist mir in der Kleidungswahl gestattet? Wie führe ich professionelle Gespräche am Telefon oder im direkten Kundenkontakt? In der Theorie ist fast alles bekannt – wurde aber noch nie geübt.

Eine Knigge-Epoche

Wie kann nun eine Waldorfberufsschule wie die Emil-Molt-Akademie auf diesen Nachholbedarf reagieren? Oder kritisch gefragt: Hat ein Antrainieren von marktgängigem Sozialverhalten noch etwas mit Erziehung zur Freiheit zu tun? Wir wollten es ausprobieren. Im Februar haben wir die beiden Jahrgänge der kaufmännischen Assistenten zusammengefasst und zwei Wochen lang eine Knigge-Epoche gestaltet. Es wurde über »richtiges« und »falsches« Verhalten und Dresscodes diskutiert, professionelles Telefonieren trainiert und angemessenes Verhalten bei Tisch geübt, außerdem Hintergründe zum Einkauf ökologischer Lebensmittel vermittelt. Abschlussziel: die Gestaltung eines Geschäftsessens. Realität zu simulieren, ist eine fragwürdige Angelegenheit. Und dennoch hat sich gezeigt, dass durch inszenierte Alltagssituationen ein Aufmerksamkeitstraining möglich ist – denn eigentlich geht es bei der Frage um das richtige Sozialverhalten weniger um richtig oder falsch, sondern um die Fähigkeit, eine Situation zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren. Zum Beispiel am Telefon mit ausgemusterten Handys: Ein Angestellter möchte seinen Chef telefonisch um ein Zugeständnis in Sachen Urlaub bitten. Was er nicht weiß: Sein Chef ist gerade selbst im Urlaub und genervt vom viel zu dichten Familienleben. Wie man die Situation richtig erspüren und darauf reagieren kann, wurde in Mini-Theaterszenen geübt.

Anerkennung macht glücklich

Etwas zu tun, was anerkannt wird und Wertschätzung erfährt, ist eine kaum zu unterschätzende Quelle von Glücksgefühlen. Wenn unsere Schüler dadurch aufleben, selbst in allerkleinsten Situationen, dann lässt das ahnen, welche Bedürfnisse hier bestehen. Dann beginnt sich auch das gesamte Miteinander unter den Schülern zu wandeln – weg vom Respekt einfordern, hin zum Schenken von Respekt, auf­­einander Hören und miteinander Tun. Zum Abschluss dann das Geschäftsessen in den Räumen einer befreundeten Waldorfschule. Es ist ein Freitag: Das Essen war gemeinsam eingekauft und eingelagert worden, jetzt wird es zubereitet. Tische müssen gedeckt werden und die Sitzordnung geprobt. Und dann, rechtzeitig vor dem Eintreffen der geladenen Gäste werfen sich wirklich alle Schüler in Schale – und wir Lehrer sind erschüttert (im positiven Sinne). Mit so viel Begeisterung und Detailversessenheit haben wir unsere Schüler noch nie erlebt. Auch das vegetarische Drei-Gänge-Menü (das ein Betreuer glaubte durchsetzen zu müssen), haben sie klaglos und kniggegerecht gegessen – absolut professionell. Der anschließende Abwasch zeigte erneut eine Gesetzmäßigkeit: Gejammert über die Aufgaben und Pflichten wurde nur so lange, bis sie ergriffen wurden – dann erledigten sie sich fast wie von selbst. Was uns deutlich wurde: Die Beschäftigung mit dem eigenen sozialen Verhalten (und jenem der Mitmenschen) in unterschiedlichen Kontexten ist den Schülern ein Bedürfnis. Dabei geht es ihnen weniger um das Antrainieren einer »sozialen Maske«, als vielmehr um das Ausprobieren von Möglichkeiten des Verhaltens – angeleitet zwar, aber immer verbunden mit einem kreativen Ausbruch aus dem Knigge-Regelwerk. Eigentlich ist es ein Training in Achtsamkeit.

Zum Autor: Christian Baur ist Lehrer für Sozialkunde und Hauswirtschaft an der Emil-Molt-Akademie in Berlin.