Meine Mutter ist eine Superheldin. Zwischen meinem dritten und 14. Lebensjahr kümmerte sie sich komplett um die Erziehung zweier Mädchen, arbeitete Vollzeit, machte anfangs sogar noch eine nebenberufliche Umschulung. Meine Schwester und ich hatten ein gutes und warmherziges Zuhause und eine Mutter, die immer ein offenes Ohr hatte. Obendrein sah sie stets aus wie aus dem Ei gepellt – ging mit pinkem Lippenstift, lackierten Fingernägeln, in italienischen Pumps und mit gesundem Selbstbewusstsein auf Menschen zu. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat, denn auch sie hat wirklich nur zwei Hände. Meine Mutter war stark belastet und ich weiß heute durch viele Gespräche mit ihr, dass oft abends im Stillen oder an der Schulter ihrer besten Freundin alles über sie hereinbrach. Sie musste immer mehr hervorbringen, mehr leisten, um die gleiche Anerkennung zu erhalten, als eine Mutter aus einer intakten Familie. So sehr ich sie dafür bewundere, so wenig vorbildlich ist es heute für mich, denn so viel Verantwortung sollte niemand allein schultern müssen.
In modernen Gesellschaften, in denen sich seit dem industriellen Zeitalter die Kern-Familie als Norm entwickelt hat und in denen wir froh über das Scheidungsrecht sind, haben wir uns weit weg bewegt von dem einleuchtenden Credo, dass es für die Kinderziehung «ein ganzes Dorf brauche», wie ein afrikanisches Sprichwort so selbstverständlich sagt. Wie wir leben, wohnen, Beziehungen führen – all diese Faktoren bieten die Basis für Strukturen, in denen man sich dieses Dorf, gerade in der Großstadt, bewusst aufbauen muss. Vielleicht bietet die Waldorfschule einen Rahmen, in dem diese dörfliche Unterstützung, das Aneinander-Teilhaben und Nicht-voneinander-getrennt-Sein, Raum findet. So würde gerade alleinstehenden Elternteilen das Gefühl vermittelt und in der Praxis gezeigt werden, nicht alleinerziehend zu sein. Soweit meine Vorüberlegungen.
«Ich kann selten bis nie an Elternabenden teilnehmen, weil diese immer sehr spät sind und ich Probleme habe, einen Babysitter zu finden. Es ist nicht erwünscht, dass man sein Kind mitbringt. Es wäre schön, wenn die Schule da eine Betreuung anbieten könnte, sodass auch ich als Alleinerziehende sorgenfrei am Elternabend teilnehmen kann. Ich habe auch finanzielle Sorgen. Man soll die Waldorfgemeinschaft finanziell unterstützen, aber wie soll das gehen, wenn das Geld hinten und vorne nicht reicht? Dann soll man ehrenamtlich an der Schule helfen, aber ich arbeite ja schon die ganze Woche durch und muss mich dann noch um die Kinder kümmern. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ja nicht faul sein will, sondern mich einbringen möchte. Aber man muss ja auch irgendwann mal schlafen, weil man ohne Schlaf krank wird. Es gibt tatsächlich auch Eltern in der Waldorf-Elternschaft, die es nicht leicht haben und die sich über Unterstützung freuen würden, so wie mich. Beispielsweise wird die Betreuung am Freitag nur bis halb vier angeboten. Aber ich muss freitags ganz normal arbeiten. Oder auch das Schulessen. Das kostet für alle gleich viel. Es ist oft die einzige warme Mahlzeit am Tag für mein Kind. Es ist aber auch sehr teuer jeden Tag. Warum kann man nicht wenigstens das Essen für die Alleinerziehenden vergünstigten?»
Diese Zeilen schrieb mir Romana Knorr. Aus ihrer E-Mail las ich große Erschöpfung, aber auch Erleichterung, einen Raum für ihre Geschichte geboten zu bekommen. Viele alleinerziehende Waldorfeltern haben sich bei mir gemeldet, um mir von ihren Erfahrungen zu erzählen und mir ihre Anregungen mitzuteilen. Mit einer Ausnahme waren das alles Mütter.
Zumeist ging es um die große Belastung, Zeitmanagement und die Frage nach Unterstützung. Knorr hat andere Erfahrungen gemacht als der Rest meiner Gesprächspartner:innen – Waldorfgemeinschaft ist nicht überall gleich. Voraussetzungen, Bedürfnisse und Nöte unterscheiden sich und auch der Faktor der Selbstverwaltung kann dazu führen, dass es an bestimmten Schulen finanzielle Entlastung gibt und andernorts nicht.
Einen alleinerziehenden Vater konnte ich ausfindig machen, was repräsentativ ist für die deutschlandweite Verteilung der Care-Arbeit. Laut dem Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) sind neun von zehn Alleinerziehende in Deutschland Mütter. Andreas Bülow lebt mit seinen drei Kindern in Augsburg, ist seit zwei Jahren alleinerziehend und -verdienend. Der Älteste studiert, der Mittlere geht auf die Waldorfschule und die Jüngste auf eine staatliche Schule. «Man kommt nicht ohne die informellen Netzwerke aus», so Bülow. Gerade die seien an der Waldorfschule Augsburg so ausgeprägt, dass gegenseitige Unterstützung selbstverständlich sei. Eine andere Erfahrung mache er jedoch an der staatlichen Schule seiner zehnjährigen Tochter: «Da ist einfach eine andere Klientel, ein anderes Denken, Angehen, andere Lebenseinstellungen». Weil eine zweite erziehende Person schlichtweg fehlt, findet Bülow an Waldorfschulen gut, dass Kinder und Jugendliche einen kontinuierlichen Bezug zur Lehrperson haben. Das gute Netzwerk an der Waldorfschule lobt auch Jasmin Klarmann. «Als alleinerziehende Mutter muss man eine Netzwerkerin sein. Nicht nur in der Schule, sondern generell.» Ganz bestimmt sei das eine Herausforderung für Elternteile, denen es schwerfällt, auf Menschen zuzugehen oder um Hilfe zu bitten. Dabei sind Familien mit alleinerziehenden Eltern schon lange kein Randphänomen mehr: «Allein- und Getrennterziehende machen einen wesentlichen Bestandteil der Familien in Deutschland aus», heißt es auf der Webseite des BMFSFJ. Die meisten Eltern in Deutschland sind verheiratet, folgt man jedoch den Statistiken, wachsen immer mehr Kinder mit nur einem Elternteil auf. 2021 bestanden 18 Prozent der Familien in Deutschland aus alleinerziehenden Eltern. Mit dieser Zahl und dem Begriff alleinerziehend wird jedoch nicht berücksichtigt, wie sich Betreuungs- und Verantwortungsaufgaben tatsächlich aufteilen.
Annika Mayer, Waldorfmutter und Geschäftsführerin der Augsburger Waldorfschule, ist zufrieden als Alleinerziehende: «Zwar kommt es immer auf die Voraussetzungen an, aber wenn man ein gutes Netzwerk hat, kann alleinerziehend zu sein auch viele Vorteile haben. Beispielsweise muss ich keine Energie in Abstimmungen reinstecken. Ich entscheide allein.» Ihr sei wichtig, auch solche Aspekte zu sehen, statt nur die häufige Darstellung des armen, alleinerziehenden Elternteils, das ständig im Stress und benachteiligt ist. Mit ihrer Tochter wohnt sie in einer Gemeinschaft, in der Betreuung und gegenseitige Unterstützung verteilt wird: «Ich muss das nicht alles allein rocken.» Auch die Möglichkeit, dass Elternabende und andere Meetings seit der Pandemie teilweise online stattfinden können, stellt für sie eine enorme Erleichterung dar. Die Entscheidung, ihre Tochter an die Waldorfschule zu schicken, stand in enger Verbindung damit, dass sie alleinerziehend ist.
Mayer war es wichtig, einen starken Rahmen zu finden, in dem ihre Tochter gut gehalten wird: «Meine Tochter wächst in vielen verschiedenen Lebenswelten auf. Einen geschützten Raum zu haben, in dem sie viel Zeit verbringt, in dem aber gleichzeitig viel Freiheit gegeben wird, war mir wichtig.»
Alle Elternteile, mit denen ich gesprochen habe, hatten eines gemeinsam: Sie wissen, wie wichtig ein starkes Netzwerk von Familie, Freund:innen und anderen Eltern ist. Waldorfschulen haben dabei generell, aber bestimmt nicht immer, die Besonderheit, ein Gemeinschaftswesen zu schaffen – ein afrikanisches Dorf, das es heute häufig nicht gibt. Es wäre schön, wenn es an allen Waldorfschulen finanzielle Erleichterungen für Alleinerziehende geben würde. Vielleicht könnte die Gemeinschaft auch Rücksicht auf sie nehmen mit mehr Flexibilität bei Elternabenden, zum Beispiel mit der Möglichkeit, ihn hybrid anzubieten.
Übrigens wurde der Begriff alleinerziehend 2013 bei der Nationalen Armutskonferenz in die Liste der sozialen Unwörter aufgenommen. Der Begriff suggeriere, alleinerziehende Elternteile seien sozial nicht eingebettet und können eine gute Erziehungsqualität nicht gewährleisten. Wie könnten wir die Elternteile nennen, die wir für die Obhut und Erziehung ihrer Kinder nicht allein lassen sollten?
Danke an alle Mütter und Väter, die bereit waren, ihre Geschichte zu teilen!
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