Ausgabe 05/24

An Aufgaben und Begegnungen wachsen

Nele Galles


«Durch Probleme wächst man.» Mit diesem Satz konnte ich schon vor meinem Freiwilligendienst etwas anfangen. Aber spätestens seit meinem Jahr in Schottland glaube ich ganz fest daran. Denn ich habe es selbst erlebt. Bisher war ich eine junge Frau, die stark zum Grübeln neigte, sich den Kopf zerbrach über bevorstehende Ereignisse und der auch kleine Probleme große Sorgen bereiteten. Der Umgang mit den Menschen in der Camphill Community hat mich gelehrt, Dinge so anzunehmen, wie sie sind, und flexibel darauf zu reagieren. Denn dort konnten sich Situationen jederzeit und ohne Vorwarnung schlagartig ändern. Die Bewohner:innen reagieren sehr schnell hoch emotional und durch solche Erfahrungen wird man einfach flexibler.

Meine Hauptaufgabe bestand darin, die Bewohner:innen bei der Körperpflege zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, ihre Zimmer ordentlich und sauber zu halten. Konkret bedeutet das, dass ich ihnen beim Duschen, Zähneputzen und Rasieren assistiert habe und wir zusammen dafür gesorgt haben, dass sie sich in ihren Zimmern wohlfühlen können. Aber auch um den Rest des Hauses habe ich mich gekümmert und aufgeräumt sowie geputzt. Außerdem habe ich über das ganze Jahr hinweg zwei Workshops begleitet – das waren die Workshops «Farm» und «Pottery», also Hof und Töpferei. Auf dem Hof haben die Bewohner:innen und ich oft gemeinsam die Tiere gefüttert und die Eier eingesammelt. Beim Stall-Ausmisten hatten wir wenige Bewohner, die selbstständig arbeiten konnten, aber hier haben sie zum Beispiel das Schieben der Schubkarren übernommen. In der Töpferei hatten wir einen Bewohner, der vollkommen selbstständig mit dem Ton und den anderen Materialien gearbeitet hat. Die beiden anderen haben gemalt oder mit dem Ton gespielt. Es brauchte also niemand große Unterstützung, sodass auch ich mit dem Ton üben und töpfern konnte. Tea Breaks mit Obst und Keksen durften natürlich auch nicht fehlen. Darum habe ich mich auch gekümmert.

Abends saß ich häufig mit anderen Freiwilligen und Mitarbeiter:innen zusammen. Wir haben gemeinsam gekocht, Karten gespielt, gelacht und uns über den vergangenen Tag ausgetauscht. Die zwei freien Tage, die ich in jeder Woche hatte, haben wir gerne für Unternehmungen genutzt. Wir haben Schottland und dessen Natur erkundet oder eine Nacht in einer anderen Stadt verbracht. Die Balance zwischen Arbeit und Freizeit aufrechtzuerhalten, war mir persönlich sehr wichtig, um immer wieder die Gelegenheit zu haben, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Nur so konnte ich letztendlich immer wieder aufs Neue gestärkt und mit voller Aufmerksamkeit in die Arbeit gehen und den Bedürfnissen der Bewohner:innen bestmöglich gerecht werden.

Im Mai und im Juni habe ich Besuch aus Deutschland bekommen. Zuerst kam meine Familie und ein paar Wochen später auch meine beste Freundin. Ich wollte ganz viel Schönes von Schottland zeigen und eine Idee von meinem Alltag vermitteln, aber auch einfach die Zeit mit den Menschen genießen, die ich vor meinem Freiwilligendienst fast täglich gesehen habe. Die Besuche waren ein Highlight für mich. Die verbleibende Zeit ist dann gefühlt an mir vorbeigeflogen. Zu Beginn des Jahres gab es viel Neues zu entdecken und zu verstehen. Ich war damit beschäftigt, eine Routine zu finden und ein Teil der Community zu werden und ich habe begonnen, ein richtiges Zuhause für das kommende Jahr zu bauen. Gegen Ende war ich so in den Alltag mit den Menschen und ihren vielen Routinen hineingewachsen, dass die Tage einer nach dem anderen ganz schnell vergingen. Letztlich ist die Zeit verflogen.

Im Lauf des Jahres sind mir die Menschen der Community sehr ans Herz gewachsen – die Mitarbeiter:innen und die Bewohner:innen. Anfangs gab es aber auch eine Begegnung, mit der ich mich schwer getan habe. Es war das Aufeinandertreffen mit einer anderen Freiwilligen, die im selben Haus arbeitete wie ich. Ich habe ernsthaft überlegt, das Haus zu wechseln und mich woanders neu einzurichten. Nach einigem Abwägen habe ich mich aber dagegen entschieden und heute bin ich froh darüber. Denn dieser Prozess hat mich enorm reifen lassen. Ich kann Probleme jetzt besser ansprechen, anstatt sie mit mir selbst auszumachen oder sie herunterzuschlucken und zu hoffen, sie lösten sich in der Zukunft irgendwann von selbst.

Die größten Geschenke, das ich aus meinem Jahr als Freiwillige mitnehme, sind mehr Selbstbewusstsein und mehr Eigenständigkeit. Ich kann jetzt reflektierter auf Situation zurückblicken und stolz sagen, dass ich genau deshalb die Person bin, die ich jetzt bin. Hätte ich die Wahl, irgendetwas anders zu machen, würde ich die Möglichkeit glatt ausschlagen. Denn es war alles bestens – genau so wie es war.

 

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