Nina Luckner sagt: «Wenn es um Fragen der Beziehungsgestaltung geht, halte ich mich gern an Martin Buber, dessen Beschreibung des erzieherischen Verhältnisses für mich hilfreicher ist als Steiner, den ich in diesem Zusammenhang nicht als Experten empfinde.» Die Gymnasiallehrerin hat sich nach ihrer waldorfpädagogischen Ausbildung für die Arbeit an der Waldorfschule entschieden. Die war ihr aus der eigenen Schulzeit vertraut. Heute bildet Luckner als Mitglied der Seminarleitung am Campus Mitte-Ost in Leipzig neben ihrer Tätigkeit als Klassenlehrerin auch jüngere Kolleg:innen aus. Blickt sie auf das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler:innen, ist für sie die entscheidende Frage, wer die Beziehung stiftet, gestaltet und verantwortet. Das sind für Luckner ganz klar sie und ihre Kolleg:innen. Als «gleichwertig», aber «asymmetrisch» charakterisiert sie das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Lernenden. «Gleichwertig» meint, dass sich Schüler:innen und Lehrkräfte als freie Individuen begegnen. Asymmetrisch deshalb, weil damit nicht automatisch eine Augenhöhe gegeben ist, wie wir sie in Freundschaften oder Partnerschaften haben. «Es ist Aufgabe der Lehrkraft, sich aktiv um die Beziehung zu bemühen und ihr einen gesunden Rahmen zu geben – vergleichbar etwa Ärzt:innen und ihren Patient:innen», führt Luckner aus.
Loslassen und vertrauen
Ähnlich sieht das auch der Heilpädagoge Florian Steiger. Inzwischen begleitet er in München ebenfalls junge Menschen als Klassenlehrer und zudem ist er Referent für Schulentwicklung beim Bund der Freien Waldorfschulen. Steiger orientiert sich gern an Hartmut Rosa und hat viel aus dessen Buch Resonanz im Klassenzimmer aufgegriffen, als er zu Beginn des laufenden Schuljahres die siebte Klasse eines Kollegen übernommen hat. «Im Grunde haben wir ein halbes Jahr lang fast ausschließlich daran gearbeitet, eine Beziehung zueinander aufzubauen. Die Inhalte der Epochen hatten einen geringeren Stellenwert», erzählt Steiger. Denn wie könnte er den Schüler:innen etwas vermitteln, wenn diese nicht mit ihm verbunden sind, fragt er rhetorisch. Und Beziehung entstehe in Freiräumen, die Regeln könnten später folgen, ist er überzeugt. Konkret bedeutete Beziehungsarbeit bei Steiger und seinen Schüler:innen viel Raum für Gespräch, um einander kennenzulernen, Spiele zu spielen, zu vereinbaren, was die Aufgaben der Klassensprecher:innen sind und es bedeutete, die Regeln für ihre kleine Gemeinschaft miteinander auszuhandeln. Kaugummi kauen – ja, nein, wann? Kapuze tragen – geht gar nicht, geht manchmal, ist kein Problem? Und es bedeutete, immer wieder Sitzpläne zu entwerfen, die sich als untauglich erwiesen, und daraufhin neue zu finden und auszuprobieren. «Schlussendlich haben die Schüler:innen das ganz allein gemacht und super gelöst. Sie kennen einander einfach länger und besser als ich sie», berichtet Steiger. Und so bedeutet Beziehungsarbeit bei ihm in München auch loslassen und vertrauen …
Interesse an den Interessen haben
Philipp Kleinfercher hat erlebt, dass die sogenannten latenten Fragen ein Schlüssel zu einem guten Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sein können. Er war Klassenlehrer in Wien und ist seit 2019 Dozent für Jugendpädagogik an der Freien Hochschule in Stuttgart. «Kinder und Jugendliche tragen in den verschiedenen Entwicklungsphasen unausgesprochene, oft unbewusste Fragen mit sich. Wenn es den Lehrer:innen gelingt, diese zu erkennen und den Unterricht sowie den persönlichen Umgang danach auszurichten, ist ein ganz wesentliches Bedürfnis der jungen Menschen erfüllt. Dann fühlen sie sich wahrgenommen und erkannt und das wiederum schafft Beziehung», erläutert Kleinfercher. Oft können Schüler:innen ihre latenten Fragen selbst nicht verbalisieren. Vielmehr zeigen sich diese Fragen in ihrem Verhalten, in ihren Interessen und in ihrem inneren Erleben. Genau deshalb findet Florian Steiger es wichtig, als Lehrer «Interesse am Weltinteresse der Schüler:innen zu haben». «Das heißt, ich höre mir eben auch mal ein paar Songs des Rappers XXXTentacion an – auch wenn Hip-Hop nicht meine Musikrichtung ist – oder ich schaue ein paar Folgen Paw Patrol», sagt er.
Beziehung braucht Zeit
Disziplinprobleme im Klassenzimmer sind für Kleinfercher oft Ausdruck von Beziehungslosigkeit. Steiger betont an dieser Stelle die Wechselseitigkeit, die dem Resonanzgedanken, wie ihn auch Hartmut Rosa beschreibt, innewohnt: «Einerseits gilt es, niemals nachtragend zu sein, sondern jeden Tag aufs Neue hinzuschauen, wen ich heute vor mir habe. Andererseits muss ich mir eingestehen, dass auch ich Triggerpunkte habe, die mich manchmal emotional werden lassen. Dann muss ich vor die Klasse treten und ganz klar sagen: ,Hey, das ging gar nicht. Ich hatte schlecht geschlafen und war gereizt. Das darf aber keine Entschuldigung sein. Es tut mir leid!‘» Nach Rosa entsteht Resonanz sinngemäß dann, wenn Individuen in einen lebendigen, wechselseitigen Austausch mit ihrer Umwelt treten, anstatt sie nur funktional zu kontrollieren.
Dies steht im Gegensatz zur entfremdeten Beschleunigung der modernen Gesellschaft. Disziplinprobleme sind es zwar nicht, die Luckner zu schaffen machen, und dennoch steht sie trotz ihrer langjährigen Erfahrung gerade ebenfalls vor Herausforderungen: Vor ein paar Monaten hat sie in der Parallelklasse ihrer eigenen Siebten auch einige Epochen übernommen und war überrascht davon, wie groß der Unterschied ist in der Beziehung zu den Jugendlichen. «Mit der Altersstufe habe ich durch meine eigene Siebte zu tun und kenne mich aus in ihrer Lebenswelt und aus den letzten Jahren sind mir sogar die Schüler:innen schon ein wenig vertraut. Deshalb habe ich nicht kommen sehen, wie anspruchsvoll es werden könnte», erzählt sie. Für Luckner zeigt die gegenwärtige Situation einmal mehr, welche geheime Kraft mit dem Klassenlehrer:innen-Sein verbunden ist. Denn die Siebte, die sie vom ersten Schultag an begleitet, empfindet sie vollkommen fraglos als zu sich gehörig – eine unangefochtene Selbstverständlichkeit umgibt sie und ihre Klasse. Mit der Parallelklasse dagegen verbindet sie eine erarbeitete Beziehung, die viel mit dem persönlichen Verhältnis zu den einzelnen Jugendlichen zu tun hat und die durch die gemeinsamen Erlebnisse und über die Zeit erst wächst. «Beide Verhältnisse haben ihre Qualitäten und bilden die Bandbreite von Bindung in einem Lehrerinnenleben ab», sagt Luckner.
Stärken und Schwächen kennen
Die Dinge ernst, aber nicht persönlich zu nehmen – das sei wichtig, um Krisen in der Schule zu meistern. Damit Lehrkräften das gelingt, müssen sie ihre eigene Bedürftigkeit kennen und einen professionellen Umgang damit pflegen. «Die Schule darf nicht der Ort sein, an dem sich Lehrkräfte ihre Bedürfnisse nach Nähe, Anerkennung und Liebe zu erfüllen versuchen. Leider kommt das immer wieder vor», sagt Luckner. Sie plädiert dafür, bei denen, die sich für den Lehrer:innen-Beruf interessieren, viel stärker danach zu schauen und eine zu starke eigene Bedürftigkeit zu einem Ausschlusskriterium zu machen. Auch Kleinfercher berichtet, dass diejenigen, die im Beruf scheitern, «im Grunde häufig an der eigenen Bedürftigkeit scheitern». Deshalb müsse man in der Ausbildung noch stärker darauf achten. Steiger erinnert sich in diesem Zusammenhang vor allem an Einheiten zu den Themen Selbsterziehung und Biografiearbeit. «Ich fand es unheimlich wertvoll und auch notwendig, mein Leben zu betrachten, nach den Knickpunkten darin zu suchen, mich zu fragen, wie haben die mich geprägt, welche Stärken und welche Schwächen bringe ich mit», resümiert er. Entscheidend für die Beziehungsgestaltung im Berufsalltag können schließlich auch die eigenen Bindungserfahrungen sein. Für Luckner ist dabei aber keine Bindungserfahrung per se problematisch, im Gegenteil. «Im Sinne der Diversität finde ich es sogar wichtig, dass Lehrkräfte möglichst unterschiedliche Bindungserfahrungen mitbringen. Lauter Heile-Welt-Menschen bieten wohl kaum einen ausreichenden Resonanzraum für die Realität. Entscheidend ist, was jemand aus seinen Bindungserfahrungen macht. Reflektion und Verwandlung sind wichtig», sagt sie. Kleinfercher geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet es als ein echtes «Beziehungskünstlertum», wenn sich Menschen bewusst in dissonante Beziehungsräume hineinstellen lernen, um gesundend darin zu wirken.
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