Seine Mitarbeiter sprachen daher von Anfang an von «seelenpflegebedürftigen» Menschen und lenkten den Blick weg vom Defizit zum Bedarf. Bezeichnenderweise erkannte Steiner früh die Gefahren durch die Eugenik, also Programme zu einer genetischen Verbesserung der Menschheit, die damals weithin als progressiv galten. Aus Sicht dieser Eugeniker waren Behinderungen nichts als eine Fehlleistung der Natur, die zu eliminieren war.
Die anthroposophische Medizin und Heilpädagogik versuchten eine humanere Praxis zu verwirklichen. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Kinderarzt und Anthroposoph Karl König. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er nach dem deutschen Einmarsch 1938 aus Wien fliehen und gründete in Schottland die wegweisende Camphill-Bewegung. Jedes Kind, so König, «ist unser Bruder und Schwester». «Und wie sehr auch seine Individualität verdeckt sein mag durch viele Schichten des Unvermögens, der Gelähmtheit, von unkontrollierten Gefühlen, wir müssen trotzdem versuchen, durch diese Schichten durchzubrechen, um das Heiligste jedes Menschen zu erreichen …»
Heute gibt es weltweit mehr als 700 Einrichtungen der anthroposophischen Heilpädagogik. Sie versuchen ihren Bewohner:innen ein menschlich verlässliches und gut strukturiertes Zuhause zu bieten, soweit möglich auch mit Arbeitsfelder. Und getragen von einem Geist, der alle Menschen mit ihren besonderen Eigenschaften zu sehen und zu fördern versucht.
Damit gehören diese Einrichtungen zu den kraftvollsten Orten, an denen eine gelebte Humanität erfahrbar wird. Manche Außenstehende, die damit in Berührung kamen, wurden zu Unterstützern des anthroposophischen Impulses, auch mit bedeutenden Stiftungen. Man könnte auch eine Geschichte der Anthroposophie nur unter dem Gesichtspunkt der Dankbarkeit schreiben.
Mit diesem Beitrag endet unsere Serie. Alle Teile der Serie stammen aus diesem Buch: Nachgefragt: Anthroposophie. Häufig gestellte Fragen zu Rudolf Steiner und seinem Werk.
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