Ulrike Sievers | Von Kolleg:innen hatte ich schon oft gehört, dass Jugendliche häufig wie nicht wirklich beteiligt wirken an ihren eigenen Lernprozessen und es schwer haben, Verantwortung dafür zu übernehmen. Das fiel mir wieder ein, als ich einen Podcast mit Claudine Nierth von der Initiative Direkte Demokratie hörte, in dem sie darüber spricht, wie Menschen durch die Möglichkeit der Mitsprache und Partizipation, zum Beispiel in Form von Bürgerentscheiden oder Bürgerberatungsrunden, die Chance bekommen, mitzugestalten und selbst aktiv Verantwortung zu übernehmen – und sich so eher mit der Gemeinschaft identifizieren. In der ganzen Frage der Selbstverwaltung begegnen uns diese Phänomene ja auch. Wer nicht mitgestaltet, steht der Sache oft skeptisch und fordernd gegenüber – ja gegenüber – und fühlt sich nicht als Teil eines Prozesses, in dem gemeinsam Schule gestaltet wird. Andererseits erleben die Menschen, die mit-tun, diese Beteiligung und die Möglichkeit, mitzugestalten, neben der Belastung oft auch als Bereicherung. Auf der letzten Delegiertentagung sprach ich mit einem Schüler aus der Bundes-SV, der den Wunsch formulierte, Schüler:innen mehr mit einzubeziehen, zum Beispiel bei der Entwicklung des Schutzkonzeptes, bei dem es zwar um den Schutz aller in der Schule gehe, aber der Schutz der Schüler:innen ja doch eine zentrale Rolle spiele. Wir Waldorfschulen scheinen uns mit dem Einbeziehen von Eltern und Schüler:innen bei pädagogischen Fragen und in der Schulgestaltung manchmal noch etwas schwerzutun.
Die Sorge, dass durch ihre Beteiligung wichtige Prinzipien aufgeweicht werden könnten, scheint oft größer zu sein als das Vertrauen, dass alle etwas dazu beitragen können, Schule zukunftsfähig zu machen.
Martyn Rawson | Unsere Einstellung zu bestimmten Ideen wird ja oft von dem Verständnis geprägt, das wir von deren Ursprüngen haben. Das Interessante an der Demokratie ist, dass sie auf verschiedene Ursprünge zurückzuführen ist.
Für gewöhnlich werden sie in Athen zwischen 508 und 322 vor Christus gesucht, und in der Tat war es ein wichtiges Experiment, das ein System beinhaltete, in dem männliche Bürger – der Demos – gleiche politische Rechte, Redefreiheit und die Möglichkeit hatten, sich an der Politik zu beteiligen, und dass dieser Prozess von Institutionen unterstützt wurde, die die Gesetze erließen. Dieses System, das sich auch in anderen Städten fand, schloss Frauen, ansässige Ausländer:innen und natürlich Sklav:innen aus, obwohl von ihnen die gesamte Wirtschaft Athens abhing.
Diese klassische Geschichtsdarstellung übersieht die Tatsache, dass viele andere Kulturen nachhaltige Formen der partizipativen Demokratie praktizierten. Es ist bekannt, dass die meisten Jäger- und Sammlergemeinschaften über viele Jahrtausende hinweg egalitär gelebt haben. Das berühmteste dieser alternativen Systeme war das Große Friedensgesetz der Fünf-Nationen-Konföderation der Haudenosaunee (Irokesen), das im 16. Jahrhundert von einem Mann namens Deganawideh Peacemaker und Jigonsaseh, einer Frau, die als Mutter der Nationen bekannt war, eingeführt worden ist oder auch eine Wiederbelebung eines viel früheren Prozesses war. Dieser grundsätzlich integrative, partizipatorische und demokratische Regierungsprozess sollte den Frieden zwischen den ehemals verfeindeten Nationen erhalten und die sozialen Beziehungen regeln. Viele Kernideen, wie das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der Nation, wurden von einigen der Gründerväter der amerikanischen Verfassung wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin übernommen. Das Große Friedensgesetz der Houdenosaunee war stark von der Idee sozialer Freiheiten geprägt: Bewegungsfreiheit; die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren, und die Freiheit, die Gesellschaft so zu gestalten, wie es persönlich sinnvoll erscheint.
Ein anderes Modell der Demokratie war das der Nonkonformisten und Dissidenten im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese radikalen Protestanten glaubten, dass keine Institution zwischen einem Menschen und seiner Spiritualität eingreifen oder vermitteln kann, deshalb duldeten sie keine Priester oder institutionalisierten Religionen. Sie glaubten, dass der Geist in jedem Menschen steckt. Deshalb setzten sich Gruppen wie Calvinisten, Quäker, Shaker, Baptisten, Presbyterianer und andere für Religionsfreiheit sowie für die Gleichheit und Gerechtigkeit aller und damit gegen jede Form von Diskriminierung und Zwang durch höhere Instanzen ein.
US | Bei der Frage der Demokratie spielt also die Haltung eine zentrale Rolle. Allgemein gesellschaftlich besteht unsere Aufgabe gegenwärtig darin, einerseits die bestehende Diversität der Menschen anzuerkennen und sie andererseits als gleich anzusehen. Dadurch werden wir vermutlich immer wieder vor der Frage stehen, ob es Unterschiede in Bezug auf die Gleichheit geben kann beziehungsweise darf – ob zum Beispiel bestimmte Gruppierungen in Bezug auf Fragestellungen, die nur sie angehen, nicht doch auch ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Mir fallen da zum Beispiel Diskussionen über das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein in Bezug auf Themen, die ihren Körper betreffen.
Müssen wir also definieren «gleich in Bezug auf»? Wer sollte über was beraten und entscheiden? Welche Qualifizierung braucht es? Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen kommt noch die Frage hinzu, wieviel Mitsprache ich Kindern und Jugendlichen in welchem Alter zutraue - oder andersherum, ab welchem Alter ich von Kindern und Jugendlichen Beiträge und Einsichten erwarte, die ich für wertvoll halte. Das ist ein umstrittenes Thema. Während die einen schon bei den ganz Kleinen dazu tendieren, sie in alle Entscheidungen einzubeziehen, sagen die anderen, das würde kleine Kinder überfordern, sie bräuchten die Sicherheit, dass Erwachsene die Entscheidungen treffen, auf die sie sich dann verlassen und an denen sie sich orientieren können.
Wie stand denn Rudolf Steiner zur Frage der Demokratie? Finden sich bei ihm Aussagen dazu, wie und ab wann diese Themen für Kinder und Jugendliche relevant werden und welche Rolle sie in der Pädagogik spielen sollten?
MR | Rudolf Steiner hat nie in einem demokratischen Staat gelebt und nie gewählt, und es scheint, dass er die Begriffe demokratisch und republikanisch austauschbar verwendet hat. Der schwedische Professor Bo Dahlin hat argumentiert, dass Steiners Vorstellung von Demokratie auf der Idee der Bildung oder der Selbstbildung des Menschen basierte, denn jeder Mensch kann und wird sein angeborenes Potenzial entwickeln, wenn er die Gelegenheit dazu erhält. Das zeigt die wahre Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, denn wenn jede:r Einzelne sein Potenzial frei entfalten kann, ist er in der Lage, es in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen und so eine soziale Erneuerung zu ermöglichen. Dies ist der Kerngedanke der Waldorfpädagogik. In Anlehnung an Steiners Sozialtheorie wird das soziale Wohlergehen nicht dadurch gefördert, dass die Gesellschaft sich nach ihrem eigenen Bild reproduziert, sondern dadurch, dass sie die freie Entwicklung der Einzelnen ermöglicht. Der niederländische Bildungspädagoge Gert Biesta nennt dies «das schöne Risiko der Erziehung».
US | Leider wollen nur sehr wenige Regierungen oder Bildungssysteme dieses Risiko eingehen. Selbst die Waldorfpädagogik scheint oft mehr als bereit, sich in den Dienst nationaler Standards zu stellen, und Kolleg:innen verwenden viel Energie darauf, die Anforderungen der staatlichen Prüfungen in einer Weise zu erfüllen, die zum Teil unnötig ist und das tatsächliche Potenzial der jungen Menschen eher einschränkt, als es zu fördern.
Ausgabe 10/24
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