Klassenzimmer

Aufschlüsse statt Abschlüsse

Klaus-Peter Freitag
Bild: © Charlotte Fischer

Wir schreiben das Jahr 2033

Schon wieder konnten sich Absolvent:innen der Freien Waldorfschulen mit ihren Mappen erfolgreich um einen Ausbildungsplatz oder ein Studium bewerben. Die dort vorgelegten Dokumente machten jeweils großen Eindruck und zeigten, was die Bewerber:innen geleistet und welche Kompetenzen sie erworben haben. Viel entscheidender als die äußere Anerkennung des Abschlussportfolios ist aber die pädagogische Wirkung nach innen in die Schul- und Unterrichtsgestaltung. Hier engagieren sich die Lernenden selbst für ihre Bildung und dokumentieren ihre Kompetenzen, nicht nur im klassisch kognitiven Unterricht, sondern auch und gerade in den handwerklich-künstlerischen Fächern, den unterschiedlichen Praktika, den Klassenspielen, der Jahresarbeit und weiteren Projekten. Bildung reduziert sich nämlich nicht nur auf kognitive Lernerfolge, sondern, dem Anspruch der Waldorfpädagogik folgend, ist sie auf die Entwicklung des ganzen Menschen, auf Kopf, Herz und Hand ausgerichtet. Diese Entwicklung wird auch außerhalb der Waldorfbewegung anerkannt und in vielen Schulformen folgt man diesem Beispiel. Soweit unsere Zukunftsschau.

Wie alles begann

Nach der Jahrtausendwende war das Motto der Schulreformen schneller, normiert, zentriert – Schulzeitverkürzung, einheitliche Lehrpläne und zentrale Abschlussprüfungen. Schulen, und nicht nur die Waldorfschulen, verloren immer mehr Freiheiten und konnten, insbesondere durch den Druck der zentralen und normierten Abschlussprüfungen am Ende der Schullaufbahnen, ihre eigenen pädagogischen Konzepte nicht mehr so umsetzen, wie sie es für richtig erachteten. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde der Arbeitskreis Zukunft der Abschlüsse eingerichtet, der versuchte, Auswege zu finden, in dem Kolleg:innen aus allen Regionen mitwirkten. Hier kam es sogar zu einem Gespräch im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz (KMK), in dem die Arbeit der Waldorfschulen über alle Maßen gelobt und gewürdigt wurde. Bei der Frage, ob hier nicht ein eigener Waldorfschulabschluss ermöglicht werden könnte, war die Position jedoch eindeutig. Abschlüsse und Berechtigungen könnten nur von staatlichen Stellen vergeben werden. Also wurden alternative Wege gesucht. So unter anderem, ob nicht an den Schulen das International Baccalaureate (IB), ein international anerkannter Schweizer Schulabschluss, angeboten werden könne. Die Gespräche mit der in Genf ansässigen Organisation du Baccalauréat International waren sehr konstruktiv. Leider setzt die KMK für die Anerkennung in Deutschland zusätzliche Bedingungen. So müssten entweder Mathematik oder ein naturwissenschaftliches Fach auf «Higher Level» unterrichtet und geprüft worden sein. Das wollten die Waldorfschulen in Deutschland ihren Schüler:innen aber nicht zumuten.

So wurde weiter geforscht und insbesondere auch über Deutschland hinausgeschaut. Es entstand mit Waldorfschulen aus zwölf europäischen Ländern ein European Portfolio Project, welches im Rahmen des Comenius Programms der Europäischen Gemeinschaft gefördert und nach Abschluss besonders gewürdigt wurde. So entstand das EPC, das European Portfolio Certificate, welches sich in Deutschland nicht durchsetzte, da unter anderem in der Zwischenzeit in Neuseeland ein eigener Schulabschluss entwickelt und dort zur Anerkennung gebracht wurde, das Steiner School Certificate, heute New Zealand Certificate of Steiner Education.

Einige Schulen, auch in England und Österreich, bieten diesen Abschluss an. In Deutschland wird noch jeweils um die Anerkennung gerungen. Es gibt aber schon positive gerichtliche Entscheidungen. Gerade in Nordrhein-Westfalen gab es dann auch eine Gruppe von Oberstufenlehrkräften, die sich die immer stärkere Einflussnahme durch staatliche Abschlussvorgaben nicht länger bieten lassen wollte. So hatte man die naive Idee, einfach mal eine Gruppe Wissenschaftler:innen an die Schulen zu holen, die dann bescheinigen, wie gut die Waldorfschulen eigentlich seien. Bei den Leistungen in den zu prüfenden kognitiven Fächern war es einfach. Hier konnten und können die Anzahl der Absolvent:innen und die erlangten Abschlussnoten empirisch mit denen anderer Schulformen verglichen werden und schnitten insgesamt sogar jeweils etwas besser ab. An den Waldorfschulen geht es allerdings um noch mehr. Hier sollten die waldorfspezifischen Besonderheiten – die handwerklichen Fächer (Hauswirtschaft, Schneidern, Schreinern), die außerunterrichtlichen Lernorte (Landwirtschafts-, Vermessungs-, Sozial- und Industriepraktikum), das Schauspiel und die Jahresarbeit in Klasse 12 – besonders angeschaut und untersucht werden. Die Ergebnisse waren ernüchternd, da sie gar nicht so gut waren wie angenommen. So wurde aus dem Anerkennungsprojekt dann ein Qualitätsprojekt, welches alle untersuchten Projekte besser machte, und vor allem die Schüler:innen stark in die Weiterentwicklung und Ausgestaltung einbezog. In diesem Zusammenhang entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit mit Kolleg:innen, die mit dem Portfolio arbeiteten. Es ging auch darum, wie die erbrachten Leistungen der Schüler:innen dokumentiert und die erworbenen Kompetenzen sichtbar gemacht werden konnten.

So entstand das Forschungsprojekt zur Entwicklung neuer Bewertungs- und Prüfungsformen auf der Grundlage von Kompetenz-Portfolios.

Das Abschlussportfolio der Waldorfschulen

Im Rahmen des Projekts kümmerte sich insbesondere die Rudolf Steiner Schule Bochum um die Entwicklung des Abschlussportfolios. Der Leitsatz war hier für die Schüler:innen «Zeig, was du kannst, und dokumentiere es». Hier können die Schulen für das Abschlussportfolio selbst festlegen, was verpflichtend und was fakultativ aufgenommen wird. In der Regel sind verpflichtend die Praktika, die Jahresarbeit, der künstlerische und der Eurythmie-Abschluss. Die Schüler:innen selbst können dann etwa aus den künstlerisch-praktischen Unterrichten, aber auch aus außerschulischen Zusammenhängen Projekte auswählen, die in das Abschlussportfolio aufgenommen werden sollen. Die Dokumentation erfolgt durch Kompetenznachweise. Sie sind das eigentliche Kernstück des Abschlussportfolios. Sie sollen neben dem Erwerb von Fach- und Methodenkompetenzen auch die sozialen und personalen Kompetenzen sichtbar machen sowie den individuellen Bildungsweg dokumentieren. Die Schüler:innen erfahren dabei neue Sinnbezüge durch das, was sie getan, erlebt und gelernt haben.

Der Kompetenznachweis des Abschlussportfolios wird nach einem definierten Verfahren entwickelt und organisiert. Er besteht in der Regel aus drei Teilen, erstens dem Anforderungsprofil, zweitens der Schüler:innenreflexion und drittens einem ergänzenden Fremdgutachten.

Das Anforderungsprofil enthält die schulischen Rahmenbedingungen und die pädagogische Aufgabenstellung und wird in der Regel von der Schule beschrieben. Die Beschreibung enthält Angaben, ob das Projekt verpflichtend oder freiwillig war. Es benennt die spezifischen Schwerpunkte des Projektes hinsichtlich Inhalt, Methode und pädagogischer Zielsetzung und enthält Hinweise auf entsprechende Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen, die infolge des Projektes angeeignet werden können. Beispiele für Anforderungsprofile der verschiedenen Projekte findet man in dem Handbuch Kompetenznachweis und Lern­begleitung in Waldorfschulen.

Die Schüler:innenreflexion enthält das Thema des Projekts und wo, wann und wie lange es stattgefunden hat. Sie wird möglichst zeitnah während und unmittelbar nach Abschluss des Projekts formuliert. Die Grundlagen für die Bewertungen sind eigene Beobachtungen der Schüler:innen und der Projektbegleiter:innen. Es sollen Zielvorgaben, Ambitionen und Erwartungen hinsichtlich der Kenntnisse, Fertigkeiten, Einstellungen und Kompetenzen beschrieben werden, die erworben werden sollten. Dann werden der eigene Lernprozesses, die Lernerträge und was tatsächlich stattgefunden hat beschrieben. Die Kriterien für die eigene Einschätzung orientieren sich am Projektgegenstand, das heißt, sie verweisen neben allgemein sozialen und persönlichen Kompetenzen auf speziell bei diesem Projekt geforderte Fähigkeiten. Diese Kriterien werden in der Regel mit allen Projektteilnehmer:innen zusammen formuliert und dienen in einem gemeinsamen Reflexionsprozess zur Formulierung der Schüler:innenreflexion und Fremdbegutachtung. Das Fremdgutachten durch die Projektleitung kann einfach nur Zustimmung ausdrücken oder auch Kommentare hinzufügen, eine eigenständige Einschätzung sein oder eine Mischung aus alledem. Sie enthält Hinweise, worauf sich die Beobachtungen stützen (eigene Wahrnehmung, Auskunft von Mitarbeiter:innen, Rückfragen bei anderen Kolleg:innen). Das hier entwickelte Abschlussportfolio wurde von der SocialCert GmbH zertifiziert, genauso wie die auch in Bochum entwickelte Zusatzmappe mit qualifizierten Kompetenznachweisen für fünf kognitive Fächer (Deutsch, Mathematik, Englisch, Biologie und Geschichte). Hier erfolgt die Feststellung der Kompetenzen dialogisch und transparent. Der Referenzrahmen ist, um hier auch eine Anerkennung als Fachhochschulzugangsmöglichkeit zu erhalten, der kompetenzbasierte Kernlehrplan der Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen sowie der deutsche und europäische Referenzrahmen. Die ersten Mappen wurden bereits Fachhochschulen vorgelegt und diese stellten sogenannte Letter of Intent aus, in denen sie ihre Bereitschaft erklärten, Absolventen bei Vorlage dieser Mappen studieren lassen zu wollen. In der Zwischenzeit interessieren sich immer mehr Schulen, unter anderem in einer Zukunftswerkstatt des Netzwerkes der Geschäftsführer:innen, für diese Form der direkten Leistungsvorlage. Bei einer Veranstaltung des Instituts für Bildungsrecht und Bildungspolitik, einem An-Institut der Ruhr Universität in Bochum, fand in den Räumen der GLS zusammen mit dem Bundesverband der Freien Alternativschulen und dem Montessori Bundesverband Deutschland eine Veranstaltung zum Thema Von der Schule zum Abschluss – das Dilemma alternativer pädagogischer Ansätze mit dem Abschlusswesen statt. Hier wurde auch deutlich, dass wir gemeinsam nach Formen der Zugangsmöglichkeiten für Ausbildungen suchen müssen und Möglichkeiten gesehen werden. So war bereits 2022 der Beginn einer Entwicklung, die dazu führte, dass im Jahr 2033 auch Absolvent:innen anderer Schulformen mit ihren alternativen Leistungsdokumentationen Ausbildungsanschlüsse erhalten konnten. Wer mehr Hintergrundinformationen erhalten will, zum Beispiel über die Quellen zum Text und Angebote für eine vertiefende Lektüre, kann sich an die Redaktion wenden.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.