Ausgabe 11/23

Aufstieg und Fall eines Wetterballons

Jürgen Beckmerhagen

Sonntagmorgen in Ambach am Starnberger See: 22 Grad, strahlend blauer Himmel, weiße Wolken ziehen bei schwachem Wind gemächlich Richtung Südost. Kaiserwetter. Ideales Flugwetter. Familie Rosenbruch steht an diesem 4. Juni ein aufregender Tag bevor: Sohn Ilian plant den Start seines selbstgebauten Wetterballons, um seine Jahresarbeit abzurunden. Ballon, Fallschirm, Sonde und Helium-Flasche werden in den Kofferraum verladen. Mit dabei sind Vater, Mutter, Bruder und Schwester. Ziel ist eine Wiese im nahen Münsing.
Neben Politik und Fußball ist das Wetter ein weit diskutiertes Phänomen, das viele zu verstehen glauben, aber nur wenige wirklich durchschauen. Diese Erkenntnis leitete Ilian schon vor drei Jahren, als er das Wetter zum Gegenstand seiner Arbeit in der achten Klasse machte. Nun vertieft er das Thema auf wissenschaftlicher Ebene.
Auf den Websites der Firma Stratoflights und der Ludwig-Maximilian-Universität stieß Ilian auf Anleitungen für den Bau eines Wetterballons und eines Datenloggers. Die benötigte Technik war klar umrissen: Platine, Sensoren für Temperatur, Druck und Feuchtigkeit, Datenlogger, GPS-Tracker mit Sender, zwei Mini-Kameras, Powerbank und Montagematerial. Mit dem Lötkolben fügte Ilian die Elemente zu einem komplexen System zusammen und verstaute es in einer Styroporbox.
Er lud die benötigte Software aus dem Internet und stellte bald fest, dass diese leider nicht mit den aktuellen Versionen der Bauteile kompatibel war. Im Forum, in dem sich andere Stratosphärenreisende tummeln, fand er Unterstützung und erhielt bald den aktualisierten Software-Code.
Das System funktionierte. Die Kameras zeichneten Bilder auf. Der Datenlogger protokollierte Flugbahn, Temperatur, Luftdruck und die Luftfeuchtigkeit innerhalb und außerhalb der Sonde. Der GPS-Tracker sendete über Satellit die exakte Position. Ilians Wetterballon war startbereit.
Ein Blick auf den Wetterbericht wies den heutigen Sonntag als idealen Tag aus. Wer aber denkt, dass er einfach einen Ballon in den Himmel steigen lassen kann, hat die Rechnung ohne die gewissenhaften deutschen Behörden gemacht. Das Luftamt Südbayern war für die Erteilung der Starterlaubnis zuständig, forderte jedoch eine Luftfahrthalterhaftpflichtversicherung und die  Genehmigung des örtlichen Ordnungsamts. Und das erst fünf Tage vor dem anberaumten Start-Termin!
Eine Haftpflichtversicherung mit einer Deckungssumme von fünf Millionen Euro war schnell gefunden und abgeschlossen, aber der Verantwortliche im Ordnungsamt Münsing sollte erst am Mittwoch ins Amt kommen. Am Mittwoch genehmigte er Ilians Antrag dafür aber sofort. Es blieben zwei Arbeitstage bis zum Start. Ilian reichte die Genehmigung und den Versicherungsnachweis beim Luftamt Südbayern ein, flehte um die Starterlaubnis und erhielt sie binnen 24 Stunden. Ein Hoch auf Beamt:innen, die zügig reagieren!
Auf der Wiese bei Münsing angekommen, prüft Ilian noch einmal die Funktion seiner Sonde. Trotz mehrmaliger Versuche schaltet der Datenlogger immer nach genau einer Minute ab. Ilian gefriert das Blut in den Adern. Ein Kurzschluss? Ist ein Bauteil defekt? Zuhause hatte alles plangemäß funktioniert. Dann kommt ihm der entscheidende Gedanke: «Der Akku!». Zuhause hatte er den Datenlogger stets an ein Netzteil angeschlossen. Als Ilian beide Kameras und den Datenlogger zusammen einschaltet, läuft alles wie gewünscht – auch länger als eine Minute. Offensichtlich schaltet der Akku bei zu geringem Strombedarf in den Stromsparmodus.
Ilians Schwester und Bruder verbinden die Sonde über eine Zehnmeter-Schnur mit einem kleinen Fallschirm und diesen mittels einer Fünfmeter-Schnur mit dem Ballon. Ilian markiert die Sonde mit leuchtend orangem Panzertape, damit er den Ballon im Himmel besser sehen kann.
Der Vater macht die Heliumflasche startklar, während Ilian und seine Mutter den Ballon gemeinsam festhalten. Sie sorgen dafür, dass er nicht vorzeitig aufsteigt. Der Füllprozess nimmt 15 Minuten in Anspruch.
Es ist so weit. Ilian prüft noch einmal alle Knoten der Schnüre, den Fallschirm und zuletzt die Sonde. Alles sitzt. Er gibt das Startzeichen. Langsam gleitet der Ballon mit seiner Fracht vor den Augen der Familie in den Himmel. Doch schon folgt der nächste Schreck. Der GPS-Tracker sendet keine Positionsangaben mehr. Kaum zu glauben. «Wie soll ich den Ballon nach der Landung finden?», fragt sich Ilian verzweifelt. Der Ballon steigt höher und höher. Auf den ersten acht bis 15 Kilometern durchquert er die Troposphäre mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Metern pro Sekunde. Die Temperatur sinkt bis auf minus 60 Grad. Dort oben bewegen sich sonst nur Verkehrsflugzeuge.
Der Ballon passiert die Tropopause und erreicht die Stratosphäre. Hier filtert die Ozonschicht einen Großteil der UV-Strahlung der Sonne und lässt die Temperatur leicht ansteigen. Auf dieser Höhe kreuzt die Radiosonde höchstens den Weg von Überschalljets. Der Ballon steigt auf 30 Kilometer und erreicht dabei einen Durchmesser von zehn Metern, begünstigt durch den niedrigen Luftdruck. Unter ihm leichte Wolken, die im hellen Sonnenlicht strahlen, während der unendliche Weltraum am gekrümmten Horizont erscheint, wie nachträglich auf den Filmen zu sehen.
Auf 37 Kilometern Höhe hat sich der Ballon auf das 300-fache vergrößert. Auf exakt 37.553 Metern platzt die Hülle aus Naturkautschukmaterial und fällt samt Sonde und Fallschirm zurück zur Erde. Der GPS-Tracker schweigt weiterhin. Alle zehn Augen der Familie Rosenbruch suchen den Himmel ab. Vom Ballon keine Spur.
Eine halbe Stunde später gibt Ilian die Koordinaten des Startplatzes in eine Internet-Anwendung ein, die anhand der Wetterdaten den ungefähren Landeplatz errechnet: Planegg, etwa 30 Kilometer nördlich von Münsing. Ilian und sein Vater machen sich auf den Weg und finden sich an einem völlig unüberschaubaren Ort wieder: viele Bäume, Sichtschutzhecken, hohe Zäune, kaum einsehbare Grundstücke. In einem Baum am Bahndamm der S-Bahnstrecke nach München sehen sie eine weiße Plane. Es ist nicht Ilians Ballon. Am Himmel ist weit und breit nichts von der Sonde und dem Fallschirm zu sehen. Die Hoffnung, die Sonde zu finden, wird von Minute zu Minute kleiner.
In diesem Moment erhält Ilian eine Smartphone-Benachrichtigung: Sein Bluetooth-Tracker wurde im Forstenrieder Park lokalisiert, drei Kilometer südlich von Planegg. Ursprünglich für das Auffinden verlorener Schlüssel entwickelt, hatte Ilian den Tracker kurzfristig der Sonde beigefügt und vergessen. Mit der App können sie die Sonde in einem Waldgebiet innerhalb eines 30-Meter-Radius ausfindig machen. Ein roter Streifen schimmert durch die Bäume. Die Sonde hängt im dichten Astwerk. Nach einigen kräftigen Rucken am Baum fällt sie Ilian in die Arme. Vater und Sohn feiern ihren gemeinsamen Erfolg. Nächstes Ziel: Heimkehr nach Ambach.
Ilian öffnet die Styroporbox und schaltet die Kamera ab. Dann schließt er den Datenlogger an den PC an. Dieser hat Luftdruck, Feuchtigkeit und selbst die Flugbahn sauber protokolliert. Nur die Temperatursensoren lieferten zeitweise keine Daten. In den nächsten Tagen überträgt Ilian die Daten in eine Tabelle und erstellt erste Grafiken für den schriftlichen Teil der Jahresarbeit.
Obwohl Luft- und Raumfahrt ihn nach wie vor sehr interessieren, will Ilian so schnell keine weitere Sonde in die Stratosphäre starten. «Das war schon ein riesiges Abenteuer. Ich war ziemlich aufgeregt und hatte währenddessen große Angst, die Sonde zu verliegen», resümiert Ilian.

 

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