Klassenzimmer

Eine Bewegung erzeugt die andere …

Thomas Verbeck

Die Werklehrer in den Waldorfschulen folgen einer Anregung Rudolf Steiners, der 1919 eine Familie in Freiburg besucht und dort auf einem Schrank ein bewegliches Spielzeug entdeckt hatte. Dabei handelte es sich um einen einfach aber funktional gearbeiteten Sägemann. Steiner sagte, dass genau so etwas in der Waldorfschule gemacht werden solle. Später wurde seine Anregung für den Werkunterricht in der siebten und achten Klasse der Waldorfschulen verbindlich. Walter Kraul erinnert sich: »Rudolf Steiner regte an, dass größere Kinder im Werkunterricht Spielzeuge für kleinere Kinder herstellen sollten. Insbesondere legte er Wert auf bewegliche Spielzeuge. Die so entstandenen Entwürfe wurden ab 1926 von der Waldorf-Spielzeug-Gesellschaft serienmäßig gefertigt und weltweit vertrieben. Im zweiten Weltkrieg wurde die Firma gezwungen, statt Spielzeug Munitionskisten herzustellen.« (Walter Kraul in Erziehungskunst, Heft 02/2013)

Knapp ein Jahr nach Kriegsende 1919 waren Spielzeuge für Kinder sicherlich nicht das, was ganz oben auf der Bedarfsliste einer Familie stand. Wenn es welche zu kaufen gab, dann wohl nur für reiche Menschen. Naheliegend war, dass Spielzeuge selbst hergestellt wurden, von den Eltern für die Kinder, von den älteren für die jüngeren Geschwister. Den Jugendlichen stand ohnehin ein früher Eintritt ins Arbeitsleben bevor. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die pädagogischen Anregungen für den Handfertigkeits- und Werkunterricht in jener Zeit auch einer notwendigen Versorgung der Familien mit Gebrauchsgegenständen und Haushaltsgerätschaften dienten.

Heute taucht immer wieder die Frage auf, ob es noch zeitgemäß sei, Kochlöffel zu schnitzen, der Bedarf an diesen Gerätschaften in Waldorffamilien sei doch mittlerweile gedeckt. Die gültige Antwort bleibt, dass Fähigkeiten, die bei solch basalen Handarbeiten erlernt werden, menschenkundlich für die ganzheitliche Entwicklung der Kinder von fundamentaler Bedeutung sind. Gleiches gilt für die Herstellung des einfachen und in seiner Funktionalität leicht durchschaubaren beweglichen Spielzeugs.

Angesichts der tiefgreifenden Umweltzerstörung, einer Technologie, die undurchschaubarer ist denn je, multifunktionaler elektronischer Geräte, die unser Leben organisieren, uns einen weltweiten Kommunikationskontakt ermöglichen, die selbst entscheiden, was wir zu wissen bekommen und was nicht, die uns suggerieren, wir wären frei – angesichts all dieser Entwicklungen ist es für Jugendliche von unschätzbarem Wert, selbst eine mechanische Funktionalität entwickeln zu können, sie zu durchdenken, zu konstruieren, auch möglicherweise zunächst zu scheitern, um dann schließlich, wenn das Teil funktioniert, die Freude am eigenen Erfolg erleben zu dürfen.

Vielleicht ist es überlegenswert, den Begriff »Spielzeug« außen vor zu lassen, vielleicht ist es aber auch gerade heute wichtig, wieder ernsthaft spielen zu lernen, Fantasie zu entwickeln, sich im Spiel zu vergessen, ohne darin gefangen zu sein und seiner Selbst verlustig zu gehen. Tüfteln, ausprobieren, basteln, alles gehört dazu, sachliches Denken, neugieriges Probieren, herzliche Freude am Erfolg.

Das spielende Kind auf dem Weg zum »Werker«

Das Kind ist »groß«, wenn es ein Messer benutzen darf. Darin unterscheidet es sich vom »kleinen« Kind. Das Messer, handlich und gut geschärft, wird zunächst beim Helfen in der Küche eingesetzt, was zweifellos sinnvoll ist. Neugier und Wille sind manchmal stärker als das Durchhaltevermögen. Eine halbierte Möhre lässt sich sicherer in Stückchen schneiden, einfach, weil sie fest aufliegt und nicht wegrollt. So erwacht erstes handwerkliches Verständnis, wehtun ist nicht hilfreich, sich ernsthaft verletzen schon gar nicht. Mitarbeiten unter Aufsicht, das Imitieren der richtigen Handgriffe, die überlegt vorgemacht werden, lässt eine Geschicklichkeit beim Kind entstehen, die es bald rechtfertigt, das erste eigene Messer zu bekommen, scharf und echt, kein Plastikspielzeug, das man einfach nicht ernstnehmen kann und das wegen seiner sehr uneindeutigen Botschaften nur Irritation und Konfusion im Kind auslöst. Der Notwendigkeit, sich seiner selbst, der eigenen Fähigkeiten und erwachenden Fertigkeiten bewusst zu werden, steht ein Spielwerkzeug schlicht im Wege. Die spätere Erkenntnis, dass eine Werkstatt kein Spielplatz ist, wird, wenn das Werkzeug nicht echt ist, schon im Vorfeld erschwert, ebenso wie der grundsätzliche Respekt vor allem, was man nicht kennt und von dem man zunächst mal die Finger lassen sollte. Werkzeuge werden im Laufe des Unterrichts dann eingeführt, wenn sie benötigt werden, ebenso, wie ihre sinnvolle Benutzung und sichere Handhabung.

Der Erfinder – Nützliches und Spielzeuge

Haben die Eltern den Eindruck, dass das Kind gut damit vertraut ist, darf es »sein Messer« mit nach draußen nehmen, in die häusliche Umgebung. Es findet sich immer etwas, das man schnitzen kann. Alleine oder mit einem Freund geschieht der Umgang mit dem Messer in der Regel sehr umsichtig. Die Augen folgen aufmerksam der Bewegung der schnitzenden Hand, die haltende Hand ist sicher dahinter, das Kind hat gelernt, nicht rumzulaufen, wenn es schnitzt. Das Messer wird erst aus der Scheide genommen, wenn ein sicherer Sitzplatz gefunden ist. Stöcke »müssen« grundsätzlich erstmal angespitzt werden, egal wofür. Ob später ein Pfeil daraus wird oder ein Stock für das Stockbrot, oder ein Stab, den man in den Boden stecken kann, um eine Pflanze anzubinden – es gibt unzählige Möglichkeiten. Es lassen sich auch Spiele erfinden, wie das Ringwurfspiel, ein Bogen zu den Pfeilen, mit dem man auf eine Scheibe schießen kann, Stecken für Tore beim Fußballspiel… Möglichkeiten ohne Ende, das Kind kann plötzlich Dinge und Gegenstände herstellen, die es wirklich gebrauchen kann und auch benötigt für sein eigenes Spiel.

In der Schule lernt das Kind den handwerklich geschickten Umgang in der Gruppe, seine Aufmerksamkeit ist jetzt nicht nur bei seiner eigenen Arbeit, die Umgebung, die Gemeinschaft ist wichtig. Es lernt, wann unbedingte Konzentration nötig ist, manchmal kann man sich aber auch was erzählen. Dann sollte das Werkzeug ruhen. Vielleicht stellt man das erste eigene Messer selbst her, später kommen noch andere Werkzeuge hinzu, Beil, Ziehmesser, Stechbeitel und Klöpfel, Raspel und Feile, Baumsäge und Feinsäge, Meterstab und Bleistift, vielleicht der Winkel. Manchmal hält es eben auch genau. Alle sollten wissen und lernen, wie es geht. Autonomie und Sicherheit stärken das Selbstbewusstsein. Werkstücke sollen immer einen Sinn haben, sonst kann man sich die Mühe sparen. Da man als Fünft- oder Sechstklässler nicht mehr unbedingt seine Bedürfnisse mit einem Schnitzmesser stillt, ist es gut, die Eltern als potentielle »Kunden« oder Interessenten ins Spiel zu bringen, Großeltern natürlich auch. Dann gibt es noch die kleinen Geschwister, die je nach Alter die richtige Adressatengruppe sind. Für sie etwas zu tun, für sie gemeinschaftlich im Werkunterricht zu überlegen, was sie gebrauchen könnten, womit man spielen kann, das ist soziales Lernen. Mitunter gibt es auch Dinge, die einen Schüler in dem Alter sehr reizen, etwas, das schwimmt oder fliegt, eine Murmelbahn bauen, tüfteln, ausprobieren, gemeinsam ein Projekt – etwa eine »Burg« – zu planen, zu der zahllose unterschiedliche Accessoires gehören, wie Türme, Mauern, Häuser, eine Zugbrücke, ein Brunnen, kleine Tiere, Ritter. Vielfalt ohne Ende, Einzel- oder Gruppenarbeit, arbeitsteilig vorgehen, gegenseitige Anregungen, eine technische, funktionale oder spielerisch fantasievolle Ausrichtung, alles ist möglich.

Das sich entwickelnde kausale Denken erwacht beim Sechstklässler und kommt dann in der 7. und 8. Klasse zu einer ersten Blüte. Man hat gelernt, Zusammenhänge zu durchschauen, komplexere Strukturen gedanklich zu durchdringen. Man hat Gesetzmäßigkeiten kennen gelernt und kann sie vielleicht schon anwenden, wie beispielsweise die Hebelgesetze. Vielleicht war die erste Behandlung in der Physikepoche noch zu theoretisch, so dass jetzt eine praktische Anwendung den Groschen fallen lässt und es zu einer Erkenntnis kommt. »Leiten wir das Kind in diesem Lebensalter an, aus Holz bewegliche Spielzeuge herzustellen, wird sein ganzes Interesse, sein ganzer Witz und Verstand darauf gelenkt, mechanische Bewegungen gleichsam außerhalb seines Körpers zu erfinden. Mit seiner Seele muss es ganz hineinschlüpfen in die objektive Bewegungsmechanik, wenn diese wirklich funktionieren soll ... Da gilt nur sachliches Denken, neugieriges Probieren, gefolgt von herzlicher Freude, wenn es gelungen ist.« (Michael Martin in: Der handwerklich-künstlerische Unterricht in der Waldorfschule)

Der Begriff »Spielzeug« ist für einen pubertierenden Jugendlichen unter Umständen irritierend, man ist schließlich kein Kind mehr. Durchaus interessant kann es aber sein, die Aufgabe gestellt zu bekommen, ein geschnitztes Tier zu veranlassen, seine typische Fortbewegung auszuführen, etwa ein Känguru zum Hüpfen zu bringen. Die Bewegungsspur, ihr Ablauf, ihre innere Rhythmik lassen sich dank moderner Technik via Internet beobachten, komplizierter wird es dann jedoch, wie man die Bewegung mechanisch erzeugen kann, entweder stationär mittels Kurbelantrieb oder mobil durch Anschieben. Eine solche Mechanik gelingt nicht beim ersten Versuch, funktionieren, und zwar reibungslos, wird sie erst nach einiger Zeit. Dann ist es umso erfreulicher, wenn alles am Ende tatsächlich klappt.

Der Vollständigkeit halber erscheint es angemessen, hinzuschauen, wie ein 10./11.-Klässler an die »Beweglichkeitsthematik« herangeht. Hier kommen Aspekte wie Präzision und Maßhaltigkeit hinzu. Die Mechanik lässt sich verfeinern, mehrere Bewegungsabläufe lassen sich koordinieren, Bewegungsrichtungen mehrfach umlenken, Kräfte durch Übersetzungen ausgleichen. Zusätzlich kann das gesamte Projekt auf kleinstem Raum mehrdimensional komprimiert werden. Interessante Objekte sind hier der Chronometer, oder eine endlos laufende Kugelbahn. Spannend wird der Einsatz anderer Materialien sein, vielleicht beim Bau einer kleinen Dampfmaschine, die dann den Antrieb eines Bootes oder Wagens ermöglicht… Spannend wird es auch sein, wenn ein Antrieb gefunden wird, der dann zumindest für eine zeitweise selbstständige Automobilität sorgt.

Mechaniken – einige Beispiele

Es ist immer interessant, wenn eine Bewegung zeitgleich eine weitere, völlig andere verursacht, die aber inhaltlich mit der originalen Bewegung zusammenhängt, wenn z.B. bei einem Entchen, das auf einer Achse läuft, die Räder rollen und gleichzeitig die Flügel zu flattern beginnen. Gerade das Unerwartete, Überraschende, mit dem niemand rechnet, macht den Reiz aus. Die kindliche Seele macht dann einen kleinen Hüpfer. Bemerken lässt sich das an einem Jauchzer, der stimmlich begleitet, was die Augen wahrnehmen. Die Einfachheit der Erscheinung löst die seelische Reaktion aus, das Unvollkommene weckt Interesse und Neugier, genau an dieser Stelle weiter zu machen. Eine Kurbel ermuntert dazu, sie zu drehen, eine Schnur fordert auf, daran zu ziehen. Ein Schiebespielzeug regt zum Hinterherlaufen an, eine Kugel, die ich losrollen lasse, zieht überraschende Bahnen. All das darf ich dann als Kind tun, um schlicht herauszubekommen, was passieren wird. Schalter und Hebel sind meist der Erwachsenenwelt vorbehalten und es heißt dann nur »Finger weg!« Der Lichtschalter und das plötzlich aufflammende Licht sind schon überaus interessante Erscheinungen. Ein kleines Kind will schon herausfinden, ob jeder Knips den gleichen Effekt hat. Hat er, solange, bis die Glühbirne kaputt ist. Ein Schulkind sollte diese »Untersuchungen« nicht mehr machen müssen. Es hat diesbezügliche Erfahrungen schon gemacht und daraus gelernt.

Im Grunde sind es immer Tätigkeiten, die ich von Hand ausführen kann, die ich als Kind beherrsche und die ich jetzt einfacher, leichter, schneller ausführen möchte. Ich habe schon im Kindergarten gewebt, sehr mühsam und zunächst unbeholfen, habe dabei eine motorische Geschicklichkeit entwickelt, Tempo und Genauigkeit meines Tuns gesteigert und dann erlebt, dass ich an Grenzen meiner eigenen Leistungsfähigkeit stoße. Letztlich war das der Ansporn für Erfindungen und Entdeckungen: höher, schneller, weiter und leichter, das waren die Ziele, die heutzutage durchaus kritisch gesehen werden – zu Recht. Der Mensch hat sich im Grunde überflüssig gemacht. Automaten tun die Arbeit, sie müssen lediglich eingerichtet und programmiert werden. Dann schaffen sie ein Vielfaches von dem, was einem einzelnen Menschen möglich wäre, stellen hohe Stückzahlen eines Produkts her, die den Handelswert immer stärker minimieren.

All das kümmert einen Siebt- oder Achtklässler nicht. Er hat, angeregt durch den Lehrer, Lust, etwas zu entwickeln, das sich von alleine, allenfalls durch Drehen an einer Kurbel bewegt. Funktioniert das »einfache« Teil, könnte man es doch durchaus so weiterentwickeln, dass es noch was tut, und zwar gleichzeitig. Es ist überaus reizvoll, eine Drehbewegung in eine Auf-und-Ab-Bewegung zu verwandeln, oder in eine neue Drehbewegung, die jetzt waagerecht ausgeführt wird. Sie könnte ein baumelndes Gewicht rotieren lassen – besser zwei wegen des Gleichgewichts, das wird schnell erkannt. Plötzlich wird die Fliehkraft sichtbar. Was auf-und-ab geht, lässt sich auch hin-und-her bewegen. Durch eine Übersetzung kann ich das Tempo erhöhen oder die Kraft steigern, durch Verkürzung oder Verlängerung eines Hebels gelingt mir ähnliches.

Es könnte zum Beispiel der Wunsch entstehen, einen »Flipper« zu bauen. Dazu braucht es eine schiefe Ebene, einen Rahmen, um die Kugel zu führen, damit sie nicht herausfällt, eine Abschussvorrichtung für die Kugel, einen Mechanismus, der in der Lage ist, die Kugel zurückzuschlagen, wenn sie in den Engpass hineinrollt, damit das Spiel weiter gehen kann und nicht verloren ist. Dazu gibt es etliche Zählstellen, an denen man Punkte machen kann. Ob es noch gelingt, eine »Punktezählmaschine« zu entwickeln, darauf darf man gespannt sein. Vielleicht muss es auch nur einen »Unparteiischen« geben, der erzielte Punkte aufaddiert. Es kommt auf Schnelligkeit und Reaktionsvermögen an. Die Regel ist, dass man seine Hände nicht unmittelbar einsetzen darf, um den Lauf der Kugel zu beeinflussen. Ebenso darf das Gerät nicht bewegt oder erschüttert werden. Das weitere Regelwerk wird erfunden und vereinbart. Spielen auf Zeit oder auf erzielte Punkte, beides geht natürlich. Eine Herausforderung besteht darin, zu erkennen, wie die mechanischen Bauteile funktionieren und welchen physikalischen Gesetzen sie in ihrer Funktionalität unterliegen. Dann gilt es, möglichst einfache und gut funktionierende Mechanismen zu konstruieren, die idealerweise haltbar und bei Bedarf leicht zu reparieren sind. Dann sollte das Ganze möglichst wenig kosten. Bringt man den Upcycling-Gedanken ins Spiel, kann es plötzlich sehr spannend werden, kaputte mechanische Geräte zu zerlegen und auszuschlachten. Kleine Bauteile, Federn, Griffe, Rollen, Rädchen, Kugellager, Schrauben und Muttern werden zu wahren Schätzen. Plötzlich ist nichts mehr einfach »Müll«. Mit einem Mal erfüllt der Werkunterricht einen Auftrag bei der Umwelterziehung, bietet ein Beispiel für Nachhaltigkeit und den schonenden Umgang mit Ressourcen.

… und endlich wieder eine Werklehrertagung

Als Lehrer steht man immer wieder vor der Aufgabe, alt Hergebrachtes neu zu denken. Das Werkstattgespräch bietet nach der coronabedingten Zwangspause in den Frühjahren 2020 und 2021 jetzt wieder die Möglichkeit, direkt und persönlich miteinander ins Gespräch und ins praktisch übende Tun zu kommen. Anfang November gab es eine Nachhol- oder Zwischentagung der Werklehrer in Karlsruhe, zu Beginn der Osterferien 2022 werden wir turnusgemäß unsere Arbeit an der FWS in Everswinkel fortsetzen. Das Thema dann: die 7. und 8. Klasse.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.