Klassenzimmer

Social Media Unplugged. Handlungsorientierte Prävention von Cyber-Risiken

Corinna Sümmchen
Aufbau der Briefkästen mit Küchenrollen (Grafikdesign Posavec)

Früher Zugriff auf Smartphone & Co.

Jugendliche werden heute immer früher mit den digitalen Medien konfrontiert. Laut der KIM-Studie von 2020 sind bereits mehr als die Hälfte der sechs- bis 13-jährigen Besitzer:innen eines eigenen Mobiltelefons und schauen durchschnittlich etwa dreieinhalb Stunden auf die kleinen Bildschirmgeräte. Als Lehrerin beobachte und begleite ich diese Entwicklung seit Jahren mit Sorge. Auch wenn ein Kind kein eigenes Smartphone besitzt, haben oftmals gleichaltrige Freund:innen bereits  internetfähiger Geräte ohne Zeitbegrenzungs- oder Filtersoftware. Bei Fällen von Cybermobbing in den Klassen werde ich als Beraterin hinzugezogen. 

Durch die immer frühere Ausstattung von Kindern und Jugendlichen mit internetfähigen Geräten und die Zunahme der Nutzung Sozialer Plattformen wie WhatsApp, Snapchat und Co. hat sich das Mobbingverhalten in den letzten Jahren stark verändert. Die Schüler:innen sind potenziell 24 Stunden am Tag Attacken ausgesetzt. Durch die Anonymität im Netz sind die Beschimpfungen auf den Plattformen deutlich drastischer.

Auch Cybergrooming nimmt an Verbreitung zu. So wird in der Studie der Landesanstalt für Medien in NRW von 2021 deutlich, dass viel zu häufig Jugendliche im Alter zwischen acht und 18 Jahren von unbekannten Erwachsenen Aufforderungen erhalten, ein Nacktbild von sich zu senden oder sich real zu treffen. 

Das Analoge Soziale Netzwerk lässt sozialen Umgang real erleben

Entscheidend im Umgang mit den virtuellen Sozialen Netzwerken ist die Sozialkompetenz der Jugendlichen, die durch den direkten Kontakt mit anderen Menschen am zuverlässigsten gefördert wird. Die Risikofaktoren für Cybermobbingopfer sind denen für reale Mobbingopfer sehr ähnlich. Unterstützung durch die Eltern und die Peer Group, hohe Sozialkompetenz und eine positive Schuleinstellung wirken als Schutzfaktoren. Kognitiv basierte Aufklärungs- und Abschreckungsansätze helfen hier nicht weiter.

Auf Grundlage dieser Überlegungen entwickelte ich das schulische Präventionsprojekt »Analoges Soziales Netzwerk« oder auch »Social Media Unplugged«. Die Entscheidung fiel für einen Ansatz, der das Sozialverhalten in der Gruppe stärken soll, beginnend mit Sprache, also ganz ohne Medien, dann mit Schrift, genauer mit handgeschriebenen bzw. gemalten Zetteln. Im Projekt wird das Thema also nicht vom Kopf und vom Bildschirm her, sondern mit Herz und Hand, also sozusagen erlebnispädagogisch aufgegriffen. Das Projekt setzt idealerweise an, bevor die Schüler:innen ein eigenes Smartphone besitzen.

Erster Schritt: In Rollenspielen sozialen Umgang real erleben

In der ersten Unterrichtseinheit des Projekts verschaffe ich mir als Lehrkraft durch ein offenes Gespräch über die bisherigen Erfahrungen der Schüler:innen in der digitalen Welt – vor allem im Umgang mit den sozialen Netzwerken – einen Überblick, welche Nutzungsformen in der Klasse bereits verbreitet sind. Dabei wird erörtert, was sie bereits alles über die Chancen und Gefahren der kleinen Computer gehört und erlebt haben. Dieser Einstieg bewirkt in der ersten Stunde ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler:innen. Meist kommt in diesem Rahmen unter anderem sehr schnell das Thema Mobbing zur Sprache, das ich unter dem Schwerpunkt Sozialkompetenz aufgreife.

In Rollenspielen zu selbst aufgeschriebenen Mobbing-Geschichten haben die Schüler:innen die Möglichkeit, sich in die einzelnen Rollen hineinzuversetzen: die der Opfer, der Täter:innen, der stillen Beobachtenden, der Helfenden oder der Mutlosen. Durch einen anschließenden Austausch aus den Perspektiven der einzelnen Rollen werden alternative Verhaltensweisen für schwierige Situationen in der Zukunft nicht nur besprochen, sondern eingeübt. Ziel ist, dass in Zukunft solche Szenen nicht mehr eskalieren. Die Klasse überlegt und erarbeitet streitschlichtende
Vorgehensweisen, um Personen in der Opferrolle beistehen zu können. Die Schüler:innen nehmen nach meiner Erfahrung dabei ihre Rollen so selbstverständlich an, dass eine ganz neue Dynamik innerhalb der Szenen entstehen kann, die brandaktuelle Problematiken in der Klassen­gemeinschaft zum Vorschein bringt und Raum zur Verarbeitung bekommt. 

Weitere Übungen haben das Ziel, den Schüler:innen Verhaltensweisen im Umgang mit Beleidigungen und Äußerungen negativer Kritik zu vermitteln, um einer Eskalation vorzubeugen. Empathische Kritik gegenüber einer Klassenkamerad:in zu formulieren ist ein wichtiger Lernprozess für die Jugendlichen. Sie müssen am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, Kritik auf Augenhöhe auszusprechen und einen Tadel freundlich und überzeugend dargestellt zu bekommen, um ihn annehmen und daraus konstruktiv lernen zu können. 

Zweiter Schritt: Im Analogen Sozialen Netzwerk kommunizieren

Sobald ausreichend Sozialkompetenz im Klassenverband erreicht ist, kann das Soziale Netzwerk im Klassenzimmer eingerichtet werden. Konkret werden aus Papprollen Postfächer für alle Schüler:innen und die Lehrkraft gebastelt, an die man Nachrichten, Bilder, usw. schicken kann. Alle Schüler:innen bekleben ihre Rolle mit einem Profil, das Namen, Foto und Informationen zur Person enthalten kann. Eine Pinnwand ermöglicht zusätzlich das Posten von Beiträgen, Fotos, Gedichten und vielem mehr. Bevor das Soziale Netzwerk in der Klasse in Betrieb genommen werden darf, werden Regeln aufgestellt.

  1. Niemals etwas anonym schreiben oder posten. 
  2. Es wird niemand beschimpft, beleidigt oder kompromittiert.

Dann wird noch ein »Systemadministrator« bestimmt, der für den reibungslosen »Datenverkehr« und die Kommunikation im Netzwerk zuständig ist. Nun dürfen die Schüler:innen beginnen, Nachrichten zu schreiben, Posts an die Pinnwand zu hängen und sie zu »liken«. Ein Glöckchen kann jedes Mal geläutet werden, wenn eine Nachricht in ein Fach gelegt wird. Es dauert jedoch in der Regel nicht lange, bis die ersten Schüler:innen gegen die Lärmbelästigung protestieren und darauf hinweisen, man könne doch auch selbständig nachsehen, ob eine Nachricht eingegangen sei. Es lässt sich das Bewusstsein schon vor dem Eintritt in die virtuellen Netzwerke schärfen, wie störend und nervig Pushnachrichten sind. Alle Personen in einer Klasse erstellen einen Daumen mit Namen, damit Zustimmung oder Ablehnung nicht anonym abgeben werden kann. Die frischgebackenen Benutzer:innen von Social Media Unplugged erhalten auf diese Art und Weise ausgiebig und rasch Rückmeldungen dazu, ob ihre künstlerischen oder informativen Beiträge auf Anklang stoßen oder nicht. So kommt es vor, dass manche Schüler:innen ihre Posts wieder »löschen«. Das kann ein guter Lernprozess für die Selbstreflexion der Jugendlichen sein, die nach und nach vorsichtiger und überlegter in der Auswahl ihrer Posts an der Pinnwand werden. Die Likes können auch missbraucht werden, um einzelne Schüler:innen ungerechtfertigt schlecht oder gut zu bewerten. Das bietet dann einen Anlass, um über Nutzen und Missbrauch von Likes im Internet ins Gespräch zu kommen. Viele der Jugendlichen kennen schon auf Instagram die sogenannten Influencer, die durch ihre zahlreichen Follower mit Werbeverträgen zum Teil einen hohen Verdienst erzielen und somit ein berufliches Vorbild darstellen. Daher lohnt es sich, mit den Schüler:innen diesen »Beruf« zu beleuchten: Wie fühlt es sich an, wenn man sein ganzes Verhalten danach ausrichtet, welche Posts möglichst viele Likes bekommen? Je nach Alter der Klasse kann auch über die Funktionsweise und Erkennbarkeit von Crowdturfing gesprochen werden, das gezielte Bezahlen von Nutzer:innen, die als Gegenleistung positive Bewertungen und Likes für Produkte ins Netz stellen.

Regeln sind da, um gebrochen zu werden

Regeln einzuführen ist sehr wichtig, aber im Zuge des Projekts werden sie nicht immer eingehalten. So kommt es immer wieder vor, dass heimliche Liebesbriefchen mit einem falschen Namen in einem Postfach liegen oder auch anonyme Beschimpfungen. Allerdings passieren diese Dinge nach den bisherigen Erfahrungen in jeder Klasse tatsächlich nur einmal. Die Vorfälle sind Vorzeigeereignisse, um mit der Klasse an Themen wie Hacken und Hate Speech zu arbeiten. Ein konkretes Beispiel für die Thematisierung von Hate Speech: Gleich zu Anfang der ersten Stunde kommt ein Schüler auf den Klassenlehrer zu und vertraut ihm an, dass er zwei Beschimpfungen in seinem Postfach liegen habe und diese seien auch noch anonym zugestellt worden. Der Klassenlehrer berichtet dies sofort in der Klasse und stellt Zeit für eine Besprechung dazu zur Verfügung. Manche Schüler:innen reagieren empört darauf und überlegen sich sofort Strategien, wie man den oder die Übeltäter:in überführen könnte. Es kommt der Vorschlag, dass die Schrift analysiert werden könnte, um die Täterin zu entlarven. Aber die Schüler:innen sind sich sehr schnell einig, stattdessen erst einmal der anonymen Zettelschreiberin die Chance zu geben, eine Entschuldigung mit Namen in das Postfach des beschimpften Kindes zu stecken. Bis zum Ende des Schultages konnte dieser Vorfall geklärt werden und die anonyme Schmähbriefschreiberin hatte mit einem Entschuldigungsbrief um Versöhnung gebeten. Das Erleben in der Gemeinschaft macht es den Jugendlichen leichter, eine Lösung für ein Problem zu finden und das Gefühl, dabei nicht allein zu sein, zeigt den deutlichen Unterschied zur digitalen Welt. Bleibt zu hoffen, dass die Schüler:innen dies in späteren Jahren auch auf ihre Aktivitäten in virtuellen Social Media Plattformen übertragen werden. Die Schüler:innen nutzen meist im analogen Sozialen Netzwerk die Pinnwand am intensivsten. Um das Netzwerk lebendig zu halten, ist es wichtig, immer wieder neue Ereignisse dort einzubauen.

Nachhaltigkeit durch Erlebnispädagogik

Im Analogen Sozialen Netzwerk bietet es sich an, Chaträume und Gruppen zu erstellen. Eine Gruppe kann man zum Beispiel in einem weiteren Postfach anlegen. Vorne sind alle Namen der Mitglieder der Gruppe zu lesen und nur Mitglieder dürfen dort Nachrichten, Bilder usw. hinterlegen und in das Fach schauen. Die Gruppendynamiken, die hier bewusst in einer Klasse ausgelöst werden, werden durch das Beobachten anderer Schüler:innen aufgegriffen und gemeinsam mit der Lehrkraft verarbeitet und gelöst.

Weiterentwicklung und Verbreitung

Weitere mögliche Themen, die mit dem Analogen Sozialen Netzwerk schon behandelt wurden, sind Kettenbriefe, Videos erstellen und posten (Daumenkino), Wettbewerbe und Fake News.

Ich habe bereits Workshops für Lehrer:innen über das Analoge Soziale Netzwerk angeboten. Ziel war es, den Lehrer:innen einen Gesamtüberblick des Projekts zu geben. Dem handlungsorientierten Ansatz entsprechend, erschien es mir sinnvoll, die Lehrkräfte die Übungen für den ersten Schritt selbst durchzuführen zu lassen und für den zweiten Schritt Steckbriefe zu erstellen, zu posten, zu liken, Wettbewerbe durchzuführen und vieles mehr. Die Rückmeldungen aus den Kursen fielen sehr positiv aus. Einige Lehrer:innen gaben mir bald nach dem Weiterbildungstermin die Rückmeldung, das Analoge Soziale Netzwerk in ihrer Klasse erfolgreich und mit viel Freude bei allen Beteiligten eingeführt zu haben.

Corinna Sümmchen, *1971, ist Lehrerin für Medienkunde und Informatik an der FWS Chiemgau in Prien. Sie absolvierte eine Ausbildung zur medienpädagogischen Beraterin bei IPSUM in Stuttgart. Zuvor studierte sie Informatik an der Technischen Hochschule in Rosenheim und schloss mit Diplom und Master in Science ab. Vor ihrer Tätigkeit als Lehrerin arbeitete sie mehrere Jahre in verschiedenen Software-Projekten in der IT-Branche. Sie hält Vorträge und Fortbildungen an Schulen und Hochschulen für Lehrer:innen im Bereich Medienpädagogik.

corinnasuemmchen@web.de

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