International

Ein neuer Ansatz für die Lehrplanentwicklung

Martyn Rawson

Staatliche Reglementierungen der Schulen in Großbritannien

In einem in Deutschland unvorstellbaren Ausmaß beaufsichtigen und beurteilen die Schulbehörden viele Aspekte des Lernens, der Schulführung und der Qualitätssicherung in allen Schulen, auch Waldorfschulen.

Als Schulen in freier Trägerschaft dürfen Waldorfschulen zwar ihr eigenes Profil haben, sie müssen aber alles, was sie tun, begründen und dokumentieren. Zudem müssen sie penibel nachweisen, dass der Waldorfunterricht in jeder Klasse zu vergleichbaren Ergebnissen kommt. Oft erwarten Inspektoren, dass der Unterricht nach einem bestimmten Muster gestaltet wird. Solche Anforderungen setzen Schulleitungen und Lehrkräfte unter enormen Druck.

Ende der 1990er Jahre handelte die damalige SWSF gewisse Freiräume für die Waldorfschulen aus. Ergebnis dieses Prozesses war die Veröffentlichung eines Lehrplans (Rawson & Richter , 2000), der die wichtigsten Merkmale der Waldorfpädagogik in einer mit staatlichen Lehrplänen vergleichbaren Sprache beschreibt.

Der neue Waldorflehrplan »führt und lässt wachsen«. Er beschreibt drei Dimensionen von Lernsituationen, die das Lernen und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen führt und strukturiert, aber gleichzeitig den Heranwachsenden genug Freiraum lässt, um eigene Erfahrungen machen zu können. Er soll nicht als statisches Nachschlagwerk oder Verordnung verstanden werden, sondern als Beschreibung eines dynamischen Prozesses. Mit Hilfe des Lehrplans können Lehrkräfte klare Intentionen formulieren, was, wie und wann sie unterrichten, welche Wirkung ihr Unterricht auf das Lernverhalten der Schüler haben soll, und auch, wie sie erkennen können, welche Wirkung der Unterricht tatsächlich hat. Die Erklärung, »weil es im Lehrplan steht«, reicht nicht als Begründung dafür, etwas zu tun. Die pädagogische Qualität bzw. Effektivität in Bezug auf die Förderung des Lernens und der Entwicklung lässt sich anschließend anhand der Zielsetzungen bewerten.

Um den Lehrplan zu ändern, zu ergänzen oder kürzen zu können, was angesichts der sich rasch verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und des Umfeldes des schulischen Lernens z.T. notwendig ist, muss man klare eigene Zielsetzungen haben. Ein solcher Vorgang muss Gegenstand eines lebendigen, sachlichen und professionellen Diskurses sein und darf nicht zu einer persönlichen Angelegenheit von einzelnen Waldorflehrkräften werden.

 

Ebenen des Lehrplans

Auf der Makroebene werden archetypische Entwicklungsthemen oder Motive (statt Inhalte) benannt, die einen allgemeinen und fächerübergreifenden Charakter haben. Diese könnten für alle Waldorfschulen gültig sein. Ein Beispiel: Im Alter von 9 Jahren lernen die Kinder das Grundverhältnis der menschlichen Gesellschaft zu ihrer Umwelt kennen und wie Menschen ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schutz und Sinngebung in traditionellen Gesellschaften befriedigen. Diese Altersstufe hat mehrere Entwicklungsaufgaben, die mit der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der praktischen Welt zu tun haben.

Auf der Mesoebene werden idealtypische Unterrichtsinhalte und Methoden beschrieben, die für Schulen in einem bestimmten Kulturraum bzw. Land relevant sein können. Am Beispiel des oben beschriebenen Themas der dritten Klasse fände sich auf der Mesoebene der Hinweis auf Landbau, Hausbau und Handwerk-Epochen sowie das Alte Testament, die Thora oder den Koran als Erzählstoff.

Der Lehrplan wird im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen modifiziert; neue Fächer und Inhalte werden hinzugefügt und andere reduziert, weil man den Lehrplan inhaltlich ohne Verlust an Qualität und Effektivität nicht ständig erweitern kann. Am besten geschieht dies auf Grund von Forschung, gemeinsamer Beratungen und Vereinbarungen innerhalb eines Landes oder sogar eines Bundeslandes. Es reicht nicht, in einem Lehrplan nur die Inhalte zu benennen. So müssen Lernziele für die Klassenstufen und Fächer formuliert werden, damit man das Lernen und die Entwicklung sichtbar machen kann, und damit man auch gezielt individuelle Lernförderung geben kann. Auf dieser Ebene sind die Fachkompetenzen für jedes Fach angesiedelt.

Auf der Mikroebene gestaltet jede Lehrkraft ihre Unterrichtskonzepte. Dabei werden sowohl die Zielsetzungen der oberen zwei Ebenen als auch die Lernbedürfnisse der jeweiligen Lerngemeinschaft und einzelner Schüler berücksichtigt.

 

Fähigkeiten neu definiert

Im Rahmenplan wird unterschieden zwischen Basisfähigkeiten, die aktiv und gezielt als Bausteine komplexerer Fähigkeiten erworben werden müssen, und offenen Fähigkeiten, die sich durch Üben und Anwendung lebenslang unbegrenzt weiterentwickeln können.

Die Basisfähigkeiten stellen die Voraussetzung dar und werden in der Regel in den ersten 1 bis 3 Jahren des Fachbereiches erlernt. Es gilt in jedem Fachbereich zu klären, was die Basisfähigkeiten sind und wie sie effektiv gelernt werden können; so gehören beispielsweise in der Muttersprache Lesen und Schreiben dazu. Nur wer gut und sicher lesen kann, ist in der Lage, selbstständig weiter zu lernen. Die Weiterentwicklung der Fähigkeiten aufgrund der erworbenen Basisfähigkeiten bedarf nicht so sehr des direkten Beibringens, sondern es geht vielmehr darum, Lernsituationen und reale Anlässe zu schaffen und dann Rückmeldungen zu geben.  Der Basisfähigkeiten (basic skills) sind performativ – eine Einheit von Handeln und Vorstellen –, zudem wird auch nicht zwischen Wissen und Können unterschieden, weil Wissen ohne Können nicht sehr nützlich ist und es Können ohne Wissen nicht gibt.

Neu in dieser Art, auf den Lehrplan zu schauen, ist die Idee, dass der universell gültige Lehrplan nur auf der Makroebene relevant ist und auch diese Ebene vermutlich keinen Ewigkeitscharakter haben wird. Wenn man sich über die Motive oder Themen der Makroebene einigen kann, hat man eine hilfreiche Entscheidungsgrundlage, um neue Inhalte hinzuzufügen oder wegzulassen. Im Sinne der Unterrichtsökonomie kann man sich fragen, ob das jeweilige Motiv bereits genügend berücksichtigt wurde. Wenn ja, dann können wir unter Umständen andere Inhalte aussparen.

Gleichzeitig müssen wir, wenn wir komplexe Themen wie Globalisierung, Genetik oder Umwelterziehung in das Unterrichtsangebot aufnehmen wollen, klären, welche Basisfähigkeiten dazu gehören und wann diese gelehrt und geübt werden können.

Die Herausforderung für den Umgang mit einem so verstandenen Lehrplan besteht darin, einerseits die relevanten Themen für alle Klassenstufen zu formulieren und andererseits mit Blick auf bestimmte Etappen aufzuzeigen, wo jeder Schüler im Hinblick auf die Zielsetzungen in seinem Lernen stehen sollte. Was die Formulierung der allgemeinen Themen betrifft, wäre in einer Zeit der Globalisierung meiner Auffassung nach eine internationale Zusammenarbeit fruchtbar und wünschenswert.

Eine Lehrplan-App entwickeln?

Diese Ebenen könnten in einem digitalen Programm als App zur Verfügung gestellt werden. Die Lehrkraft gibt ein Passwort ein, greift auf die App zu und gibt die Klasse und die Themen ein, die sie unterrichten möchte. Man kann dann sehen, was die idealtypischen Themen und Inhalte sind, die entweder für die eigene Planung einer ganzen Unterrichtsepoche oder einer täglichen Unterrichtsstunde übernommen, abgeändert oder sogar neu eingestellen werden können. Anpassungen oder neues Material müssen dann menschenkundlich und pädagogisch begründet werden. Der Nutzer kann sehen, wie sich die verschiedenen Fähigkeiten in den vergangenen Unterrichtsstunden entwickelt haben und wie sie vertikal innerhalb eines bestimmten Fachs, horizontal über die Fächer hinweg und sogar vertikal über die Klassen und Fächer hinweg fortgesetzt haben.

Die App kann von einzelnen Lehrkräften genutzt werden oder allen Lehrkräften der Schule zur gemeinsamen Unterrichtsplanung offen stehen. Man kann sich vorstellen, dass eine solche App nützlich für die Lehrplanentwicklung sein könnte. Die Frage, ob neue Inhalte oder Fähigkeiten hinzugefügt werden sollen, kann an den Entwicklungsaufgaben ausgerichtet werden, die ihrerseits auf schulischer und sogar auf nationaler Ebene festgelegt werden müssen.

Literatur: Bransby, K., & Rawson, M. (2020). Waldorf Education for the Future: A framework for curriculum practice  Retrieved from https://www.steinerwaldorf.org/steiner-resources/ | Pountney, R. (2019). Towards a review of the Steiner Waldorf Curriculum: Report of the Rapid Appraisal Consultation Exercise undertaken in March 2019. Retrieved from Sheffield https://shura.shu.ac.uk/25321/ | Rawson, M. (2021). Steiner Waldorf Pedagogy in Schools . A critical introduction. Abingdon and New York Routledge.