Wissenschaft

»Medienbildung findet nicht nur am Bildschirm statt!«

Laura Krautkrämer | Frau Professor Bleckmann, Sie forschen seit vielen Jahren zum Thema Medienbildung und haben den Begriff der »Medienmündigkeit« etabliert. Was begeistert Sie daran?

Paula Bleckmann | Bei der Frage, wie Kinder medienmündig werden, geht es aus meiner Sicht um die Zukunft der Menschheit – das konnte ich nicht ahnen, als ich vor zwanzig Jahren anfing, mich der Thematik zu widmen. Es fasziniert mich, dass ich mit meiner Forschung Einfluss darauf nehmen kann, wie wir Menschen uns künftig gegenüber technologischen Entwicklungen aufstellen. Dabei bin ich wohl auch durch familiäre Traditionen geprägt. Wenn jemand fragt »Warum denn so rückschrittlich?«, dann habe ich die Stimme meines Großvaters Carl Friedrich von Weizsäcker im Ohr. Aus seiner Sicht als Physiker und Philosoph meinte er, es gäbe nichts, was so überholt sei wie naive Technikeuphorie und nichts Fortschrittlicheres als eine gute Technikfolgenabschätzung. Das klingt erstmal sperrig und abstrakt, aber tatsächlich ist das doch genau die Frage, die Eltern, Erzieher:innen und Lehrkräfte beschäftigt: Welche langfristigen Vor- und Nachteile haben bestimmte technologische Szenarien für unsere Kinder? Wie wir in Familien und Bildungseinrichtungen mit digitalen Technologien umgehen, sollte nicht davon bestimmt sein, wer damit wie am besten
Geld verdienen kann.

LK | Für die MünDig-Studie wurden sowohl Fachkräfte interviewt als auch Eltern und ältere Schüler:innen, die auf ausgesprochen differenzierte Fragen Antworten geben mussten. Warum haben Sie sich für dieses komplexe Studiendesign entschieden?

PB | Wir haben es zunächst mit einfacheren Fragen versucht. Die Befragten haben uns jedoch gespiegelt, dass sie es sinnvoll finden, genauer hinzuschauen – etwa, welches Medium – mit und/oder ohne Bildschirm – sie in welchem Alter für welchen Zweck einsetzen. Ein weiterer Grund: Wir wollten ihnen auf Augenhöhe begegnen und sie als Expert:innen für digitale Bildung ernst nehmen. Deshalb brauchten wir Fragestellungen, die für alle drei Gruppen funktionieren.

LK | Was kam dabei heraus? 

PB | Was mich wirklich überrascht hat: Es besteht eine sehr hohe Übereinstimmung darüber, was Eltern, Schüler:innen und Fachkräfte sinnvoll finden. Es gibt aber auch leichte Abweichungen. Die Schüler:innen wünschen sich zum Beispiel in einigen Bereichen zwei oder drei Jahre früher den Einsatz bestimmter digitaler Medien. Mit Blick auf Waldorfkita und die unteren Klassen zeigt unsere Studie darüber hinaus 17 oder 18 Stärken der Waldorfmedienbildung auf und zwei bis drei »Baustellen«. In der Mittel- und Oberstufe sind es immer noch etwa zwölf bis dreizehn Stärken und dementsprechend sieben bis acht Entwicklungsbereiche.

LK | Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

PB | Was in der Unterstufe gerade eine Stärke ist – dass analoge Medien im Vordergrund stehen und digitale Technologien noch nicht zum Einsatz kommen –, sollte den Befragten zufolge in den höheren Altersklassen dem Entwicklungsstand der Schüler:innen angepasst werden. Dass ein solches Vorgehen tatsächlich vernünftig ist, konnten wir durch die theoretische Hintergrundarbeit der Studie und den darin erhobenen aktuellen Forschungsstand unterstreichen. Medienbildung findet eben nicht nur am Bildschirm statt. Gerade im Kindergarten- bzw. Grundschulbereich ist eine umfassende Medienerziehung ohne Bildschirme dem Konzept der sogenannten Digitalkita überlegen. Die befragten Eltern schätzen hier die intensive Zusammenarbeit mit den Fachkräften im Medienbereich, die sogar noch weiter ausgebaut werden könnte. Allerdings hätten sie gerne noch mehr Unterstützung bei technischen Fragestellungen, etwa bei der Installation von Zeitbegrenzungs- und Filtersoftware auf den Geräten ihrer Kinder, oder dabei, wie man einen Router konfiguriert. In der Mittel- oder Oberstufe finden die Eltern es weiterhin gut, dass mit Medien ohne Bildschirm gearbeitet wird, äußern aber den Wunsch, dass ergänzend dazu ab zwölf, dreizehn Jahren mehr digitale Bildschirmmedien für verschiedene Zwecke im Unterricht eingesetzt werden sollten. Das deckt sich mit den Einschätzungen der Fachkräfte, die das ebenfalls für sinnvoll erachten, in diesem Bereich für sich selbst aber Weiterbildungsbedarf sehen. Der Blick auf den Forschungsstand ergibt da übrigens eine gewisse Abweichung: Selbst für die Mittel- und Oberstufe gibt es keine Belege dafür, dass kritisches Reflektieren über Medien am besten am Bildschirm geübt wird.

LK | Das ist vermutlich dann auch eine Frage der Abwägung, wie man den Wünschen und Bedürfnissen der verschiedenen Beteiligten entgegenkommen kann …

PB | Wenn es gelingen würde, digitale Medien genau dort einzusetzen, wo das auch Sinn macht – in der Schule wie auch im Elternhaus – dann wäre das natürlich ein Traum. Tatsächlich waren jedoch während der Corona-Pandemie die Bildschirmzeiten nicht mehr nur doppelt so hoch wie sie nach Ansicht von Entwicklungspsychologen, Neurobiologen etc. sein sollten, sondern überstiegen den Idealwert um das Drei- bis Vierfache! Die Lehrer:innen haben es folglich mit lockdowngeschädigten Jugendlichen zu tun, die teilweise über Wochen hinweg zwölf Stunden pro Tag vor dem Bildschirm gehangen haben. Was die Kinder und Jugendlichen jetzt brauchen, sind Aktivitäten wie Tanzkurse oder Klassenfahrten, mehr Draußenzeit und Ausflüge. Das hat in meinen Augen oberste Priorität. Wir müssen also einen Ausgleich schaffen sowie eine Nachentwicklung auf der Ebene der Persönlichkeitsstärkung ermöglichen – in einem geradezu therapeutischen Sinne. Hier sehe ich großen Handlungsbedarf.

LK | Wie können Fachkräfte und Schulen von den Ergebnissen Ihrer Studie profitieren?

PB | Viele haben uns gespiegelt, dass sie die Befragung als eine Art Schatzsuche erlebt haben, weil sie dadurch reflektieren konnten, was sie im Bereich der Medienbildung schon umsetzen. Eine Teilnehmerin hat es sogar so ausgedrückt, dass die Auseinandersetzung mit unseren Fragen bereits eine Art »Mini-Fortbildung« gewesen sei. Insofern kann unsere Studie für die Einrichtungen eine wertvolle Ressource sein und die Ausgangsbasis für eigene Medienkonzepte. Allein über 200 Beispiele für Praxisaktivitäten mit und ohne Bildschirm finden sich zum Teil stichpunktartig, zum Teil ausgearbeitet in dem jetzt veröffentlichten Bericht, der auf diese Weise sicherlich einige Inspirationen für den Kita- und Schulalltag bietet.

LK | Digitale Bildung hat durch die Pandemie einen ungeheuren Rückenwind bekommen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

PB | Die Pandemie brachte einen enormen politischen Aufschwung für die empirisch nach wie vor schlecht gestützte Aussage, wonach mit Digitalisierung in der Bildung alles besser werde. Vorher musste digitale Bildung zeigen, dass sie besser funktioniert als herkömmliche Methoden. Während der Corona-Zeit musste sie nur beweisen, dass sie besser ist als gar nichts zu machen. Aber das ist ja fast immer der Fall! Wir brauchen auch hier einen differenzierten Blick. Technikfolgenabschätzung heißt, sich genau anzuschauen, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben. Was davon wollen wir rückgängig machen, weil es vorwiegend schlecht war? Was wollen wir beibehalten, weil wir damit langfristig und in erster Linie gute Erfahrungen gemacht haben? Wir sollten uns die Entscheidungshoheit darüber nicht wegnehmen lassen. Der kritische Digitalisierungs-Experte Prof. Ralf Lankau hat in diesem Zusammenhang einen treffenden Vergleich formuliert: Wenn ich eine Krücke oder einen Rollstuhl bekomme, weil ich mir das Bein gebrochen habe und nicht laufen kann, dann bin ich dafür dankbar. Aber wenn das Bein verheilt ist, will ich natürlich wieder laufen lernen. Wenn mein Arzt dann sagt, an Krücken zu gehen sei das neue Laufen, würde ich trotzdem auf einer Reha bestehen – und mir schleunigst einen neuen Arzt suchen.

Das Interview führte Laura Krautkrämer mit Professor Dr. Paula Bleckmann.

Mehr Informationen: https://muendig-studie.de/

Download der MünDig-Studie Waldorf

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