Ausgabe 10/24

Befähigung zum Glück

Sven Saar

Alles, was Menschen begegnet, erzieht sie. Die Geschichten, die Kinder in der Schule hören, aber auch die Unordnung des Klassenzimmers. Die Klassenfahrten und Ausflüge, aber auch, wie Mitschüler:innen mit ihnen reden. Die genialen Versuche eines Physiklehrers, aber auch, dass er gerne frauenfeindliche Witze erzählt.

Der eigentliche Lehrplan


Alles im Leben des Menschen ist Curriculum, ist Lehrplan: manches davon konzipiert, das meiste aber unbewusst und daher noch viel wirksamer. Erziehende Menschen müssen sich dessen bewusst sein: alles, was sie im Umfeld ihrer Kinder tun, beeinflusst deren Entwicklung. Der Erziehungswissenschaftler Gert Biesta bringt den pädagogischen Auftrag auf eine einfache Formel: Junge Menschen sollen mit unserer Hilfe lernen, nach welchen Regeln ihr Umkreis und die Gesellschaft funktionieren und gleichzeitig, wie sie in diesem Umfeld in sich hineinwachsen, also zu selbstbestimmenden Individuen werden können. Dabei hilft ihnen laut Gert Biesta in seiner Veröffentlichung «The Beautiful Risk of Education» von 2014 die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, und auch die Art dieser Vermittlung.

Als ich mit einem Team von Autor:innen vor drei Jahren die Aufgabe bekam, das Buch Sexualkunde in der Waldorfpädagogik neu zu konzipieren, war uns von Anfang an klar, dass es dabei nicht nur um Unterricht gehen konnte. Einer der Autoren, Michael Zech, sagte: «Junge Menschen dazu zu befähigen, ein glückliches Leben zu führen – das ist doch die Hauptsache!»

Ja, ein glückliches Leben – mit anderen, aber auch mit sich selbst so im Reinen zu sein, dass man Entwicklung ermöglichen kann, denn das ist der Mensch: ein werdendes Wesen. Rudolf Steiner sagte kurz nach dem ersten Weltkrieg: «Der Mensch kann nicht auf irgendetwas geben, was er schon ist. Er muss fortwährend ein Werdender sein.»

Tabu Körperlichkeit


Seit dem Mittelalter herrscht in Mitteleuropa ein Paradigma, nach dem Geistaffinität Körperfeindlichkeit voraussetzt. Anders als in vielen Kulturen der Welt misstrauen wir seit Jahrhunderten körperlichem Wohlergehen und folgen in der Suche nach geistiger Erkenntnis einem asketischen Ideal. Die Zölibatskultur der katholischen Kirche ist hier nur die bekannte Spitze des Eisbergs. Als ich der Anthroposophie begegnete, kam sie mir ähnlich vor: Sexualität gab es im Waldorflehrplan nicht. Körperlichkeit war das einseitig Unvollkommene, durch dessen Überwindung man zu geistigen Einsichten erlangen könne. Ich vermute, dass diese Einstellung mehr der europäischen Kulturgeschichte als den Anregungen Rudolf Steiners geschuldet ist, für den alles Physische die Offenbarung eines Geistigen war – implizit natürlich auch die Sexualität, nur hat man das zu seiner Lebenszeit nicht öffentlich besprochen. Auch Eingeweihte sind Bürger:innen ihrer Zeit.

Seit einiger Zeit gebe ich in Waldorfschulen Fortbildungen, Vorträge und Workshops für Kollegien, Eltern und Oberstufenschüler:innen. Dabei geht es meist nicht in erster Linie um Sex, sondern um Achtsamkeit: Wie können wir mit neuen Impulsen in Geschlechtlichkeit, sexueller Orientierung und sozialer Gerechtigkeit so umgehen, dass es uns und anderen dabei gut geht, vielleicht sogar besser als zuvor? Eröffnen sie uns Möglichkeiten zur Selbstentwicklung? In den Schulen begegnen mir Aufgeschlossenheit und Dankbarkeit, aber auch immer wieder einzelne Menschen, die sich durch das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen bedroht fühlen. Einige vermuten gar eine gezielte Verschwörung, den Menschen auf seine Körperlichkeit zu reduzieren, indem man Kinder verfrüht mit Themen wie Gender, Sexualität, Übergriffigkeit und Körperliebe vertraut macht. Das Wort woke, aus dem Englischen entliehen und heute eingesetzt, um Wachheit und Sensibilität für andere Befindlichkeiten auszudrücken, wird aus solcher Sorge oft in einem negativen Zusammenhang verwendet. Dabei drückt sich hier ein vor allem in Waldorfkreisen erstaunlicher Zynismus aus, ähnlich der Haltung, aus welcher heraus vor etwa zehn Jahren das Wort Gutmensch als Schimpfwort benutzt wurde.

Wach und verantwortlich


Wenn wir, wie es die Waldorfpädagogik für sich in Anspruch nimmt, das Kind in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, dann müssen wir uns an seinem Erleben orientieren: für das Kind ist eben alles Curriculum. Es schult sich an dem, was wir in seinem Umfeld sagen und tun, aber auch an dem, worüber wir schweigen und was wir unterlassen. Wie erlauben wir Kindern des 21. Jahrhunderts, sich zu zukunftsfähigen Zeitgenoss:innen zu entwickeln?

Wie reagiere ich, wenn im fröhlichen Fangspiel in der Pause ein Fünftklässler einem anderen lachend nachruft «Halt an, du schwule Sau!» und ich das als Lehrer mitbekomme? Vielleicht denke ich mir: «Na ja, es ist ja Pause. Hat mit mir in diesem Moment eigentlich nichts zu tun. Kinder sind halt so. War ja auch nicht böse gemeint. Außerdem ist der bestimmt nicht wirklich schwul …»

Ignoriere ich die Situation, bin ich als Pädagoge genauso wirksam, als wenn ich mir überlege: «Wie kommt der jetzt dazu, dieses Wort als Schimpfwort zu verwenden, vor allem so gelassen, wenn er gar nicht wütend ist? Kann ich ihm und seiner Klasse vielleicht helfen, über ihre Sprachwahl nachzudenken, indem ich sie angemessen über die Realität der Homosexualität aufkläre?» Sicher gibt es hier Einstiegsmöglichkeiten …

Nach einem Oberstufenworkshop blieb kürzlich eine Gruppe Zehntklässler:innen zurück und suchte das Gespräch. Ein 17-jähriger Junge drückte sein ungläubiges Erstaunen darüber aus, dass ich gesagt hatte, man könne sich seine sexuelle Orientierung nicht aussuchen: «Ich habe gedacht, schwul sind die Männer, die keine Freundin abkriegen!» Dass solche Unwissenheit nach zehn Jahren Waldorfschule möglich ist, erschüttert mich. Unsere Schulen haben einen Bildungsauftrag und dem müssen wir auch gegen manchmal aggressiv auftretende Widerstände nachkommen.

Dabei ist Bildung nicht alles. Offizielle Lehrpläne propagieren schon seit langer Zeit die Werte des Grundgesetzes. Wir leben in einer freien, gleichen und toleranten Gesellschaft. Das fühlt sich seit einiger Zeit nicht mehr ganz so an. Menschen meiner Generation haben die zunehmende Liberalisierung unserer Gesellschaft zumeist als Befreiung erlebt, und es befremdet mich, wenn jetzt Stimmen – auch von Kolleg:innen – vor «zu viel Freiheit» warnen.  

Mir scheint, als sei es nicht mein Wissen allein, das mich zum Denken und Handeln veranlasst, sondern vor allem, wie ich mich innerlich mit diesem Wissen verbinde. Dafür brauche ich, was manche Menschen Herzdenken nennen: ein waches Bewusstsein meiner Gefühlswelt als Voraussetzung für meine Sensibilität gegenüber dem Anderen. Worauf reagiere ich, was zieht mich an, wie kann ich meinem Fühlen vertrauen? Selbsterkenntnis und Selbstvertrauen erfordern Selbstliebe! Christian Morgenstern schlägt vor, «von sich zurückzutreten wie ein Maler von seinem Bilde» – kritikfähig, aber voll tatkräftiger Liebe für das unvollendete Projekt.

Der durch zivilisierende Maßnahmen jahrtausendelang zunehmend begradigte Fluss der Menschheitsentwicklung war zur Zeit meiner Geburt in den sechziger Jahren durch eine reißende Strömung und glatte, hohe, künstlich errichtete Ufer gekennzeichnet. Konnten Menschen – zum Beispiel wegen ihrer sexuellen oder politischen Orientierung – nicht harmonisch mit dem Strom schwimmen, hatten sie drei Möglichkeiten: Sie stiegen aus und waren ab nun gesellschaftliche Außenseiter:innen, ohne Einfluss und Veränderungsmöglichkeiten. Oder sie versuchten, gegen den Strom zu schwimmen und riskierten dabei Gewalt, Erschöpfung und Ertrinken. Oder sie verstellten sich, passten sich an und betäubten vielleicht die daraus entstehende innere Verzweiflung an ihrer unwahrhaften Identität durch Konsum- oder Suchtverhalten.

Raum für freie Orientierung


Durch mutige, entschlossene Bewegungen wie Gay Pride, Me Too und Black Lives Matter werden die Wände dieses Flusses seit Jahren eingerissen – nicht sorgsam abgetragen, sondern wie mit Bulldozern radikal zerstört. Dadurch breiten sich jetzt die Fluten aus und junge Menschen – auch unsere Waldorfschüler:innen – finden sich in Booten wie auf einem Ozean treibend, die unterseeischen Strömungen nur diffus wahrnehmend, und ohne die Möglichkeit, sich an alten Ufern zu orientieren. Dieses Bild macht manchen Pädagog:innen Sorgen – sollten wir dieser Ziellosigkeit nicht etwas entgegensetzen? Den Ozean neu eindämmen?

Als Waldorflehrer und Anthroposoph widerstrebt es mir, mich in die Vergangenheit zu wenden. Stattdessen denke ich, wir sollten jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich selber zu orientieren: Ein Segel an ihrem Boot gibt ihnen die Möglichkeit, mit den herrschenden Winden zu segeln und an der Mehrheitskultur teilzuhaben. Das Ruder erlaubt ihnen aber, gegenzusteuern und die Richtung zu ändern, sollten sie sich dort, wohin der Wind weht, nicht wohlfühlen. Und schließlich ersetzt eine Kenntnis des Sternenhimmels die alten Flussufer: Hier finden sich hunderte von Idealen, denen man folgen könnte. Segel, Ruder, Sternenkenntnis und die Unbegrenztheit des Ozeans erlauben eine freie Richtungswahl. Die Journalistin Franka Henn hat das in der Wochenzeitschrift «Das Goetheanum» so ausgedrückt: «Die moralischen Leitsterne der Zukunft sind keine Gesetze, sondern Gebete, die sich entfalten.»

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