Ausgabe 01-02/25

Begrüßung als Signal für Verbindlichkeit

Uta Stolz


Die Kinder begrüßten mich und meinen Besucher aus den Niederlanden vor über 20 Jahren: «Gu-ten-Mor-gen-lie-be-Frau-Stolz-gu-ten-Mor-gen-lie-ber-Herr-Ver-ha-ge!» Ich selbst hatte mich bei diesem Ritual nie ganz wohl gefühlt, erinnerte es mich doch stark an meinen Lateinunterricht, wo wir noch in der gymnasialen Oberstufe der Siebzigerjahre auf- und auch strammstehen mussten. Mein niederländischer Kollege fragte mich in der Nachbesprechung amüsiert: «Macht ihr das immer noch so in Deutschland? Der Krieg ist doch lange vorbei. Man kann nur persönlich grüßen, im Chor kann man nicht grüßen. Der Gruß geht von Ich zu Ich oder vom Ich zur Gruppe. Du hast doch jedes Kind schon einzeln begrüßt.» Ich fühlte mich ertappt und schämte mich, denn in meinem Inneren war mir nicht wohl gewesen, aber «man machte das so». Ich löste die Situation für mich, indem ich nach der individuellen Begrüßung vor Beginn des Unterrichts kurz die Klasse begrüßte und den Schüler:innen frei anbot, mir zu erwidern, was all die zwanzig Jahre einzelne auf ihre Weise taten.

Kraft versus Tiefe


Und doch erlebe ich, dass gerade jüngere Kinder den Begrüßungsspruch gern gemeinsam schmettern, das Chorische hat Kraft und schafft Verbindung. Der persönliche Gruß hat Tiefe, oder wie mir in der Mittelstufe ein Quereinsteiger sagte: «Wissen Sie, Frau Stolz, in der anderen Schule sind wir in die Klasse gegangen und haben unsere Lehrer stehen lassen, aber hier gebe ich jedem Lehrer die Hand!» Augenblick und Art der Begrüßung spiegeln wie kein anderes Ritual unsere innere Haltung dem anderen gegenüber wider und sind ebenso Ausdruck der jeweiligen Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft, die mittlerweile eine «Hallo»-Kultur geworden ist.  Als bekennende Württembergerin in Göppingen vom Rheinland aus zu Gast hoffte ich auf ein heimeliges «Grüß Gott» eines Herrn in seinem Vorgarten und erntete nur ein «Hallo». Auf die Frage, ob das «Grüß Gott» denn verschwunden sei, versicherten mir Einheimische, nein, es gebe da noch ein Dorf im Hinterland …

Signal für Interesse und Verbindlichkeit


Es ist nicht einfach, eine Begrüßungskultur zu gestalten, die nicht zu steif und nicht zu beliebig ist, sondern ein starkes, echtes Signal für Interesse und Verbindlichkeit sendet. Im «Waldorf» versuchen wir das. Im Begrüßen von Fremden zeigt sich diese Kultur:  Strömen die Schüler:innen blick- und wortlos vorbei, erwidern sie zögernd bis freundlich den Gruß, grüßen sie von sich aus oder fragen sie sogar: «Kann ich helfen?» Wie herzerwärmend war es nach der langen Reise zur Freien Schule Rügen das Schild im Eingang zu lesen: Willkommen, liebe Uta. Begrüßung ist eine Haltungsfrage, ein Indikator von Herzlichkeit bis Herbheit der Erwachsenen, jenseits der Wortwahl. Sie findet im Blick statt, gefolgt von Worten und Gesten. In diesem Augenblick schwingt alles zusammen, was uns ausmacht. Ich und du sind wir. Um diesen Freiraum gegenseitiger Wahrnehmung geht es in der Begrüßung. Als Lehrerin habe ich den ersten Eindruck der Tagesform der Lernenden, aus der ich intuitiv den Tonfall, die nächsten Äußerungen oder auch die gebotene Vorsicht schöpfe. Gleichzeitig kann ich die Lernenden ermutigen und bestärken, wenn sie sich auf den Gruß einlassen. Grüßen kann nicht erzwungen werden, weder Wort noch Blick oder  Hand. Ein in der Türkei aufgewachsener Lehrer berichtete, dass er aufgrund der militärisch erzwungenen Grußrituale seiner Kindheit so etwas nicht in der Oberstufe durchexerzieren könne. Für den schmalen Grat zwischen Zwang und Freiheit werden Heranwachsende stets sensibler. Manche kennen den Händedruck aus ihrem Umfeld nicht, manche ertragen den Blick nicht, andere überlegen freudig, was sie zur individuellen Begrüßung berichten möchten.

Universelle Brücke Lächeln


Nichts überbrückt mehr als ein freudiges Lächeln, das wir intuitiv als hell und warm erleben. Dieses Lächeln ist vielleicht die kulturübergreifende wichtigste Grußformel, der universelle Bezug zur Wärme und zum Licht, zur Sonne. Sonnig ist es, wenn mich die zwölfjährige Emma mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung an meiner Tür begrüßt: «Hallo Frau Stolz!», ruft sie bis weit über die Hecken hinweg, «wir haben uns ja so lange nicht gesehen. Ich freue mich so!» Nicht ich als ihre Lerntherapeutin habe Emma das Grüßen gelehrt, sondern sie bringt es mir jedes Mal aufs Neue bei. Die Erwartung der Lernenden an den Unterricht speist die Qualität des Grüßens, eine freudige Erwartung, wie es ein Schüler aus dem Autismusspektrum einmal formulierte: «Welche wunderbaren Inhalte hat heute meine Lehrerin liebevoll für mich vorbereitet?» Oder ein frustrierter Erstklässler: «Das heißt Schreibepoche, aber wir lernen nur Buchstaben!» Zu diesem Begrüßungsgeschehen gehören die Morgensprüche mit den jeweiligen Anfängen:

«Der Sonne liebes Licht, es hellet mir den Tag…» Und: «Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet…» Diese Worte sollen nicht nur die Lernenden einstimmen, sondern auch die Lehrer:innen zu einem ganzheitlichen Grußgeschehen beflügeln.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.