Ausgabe 05/25

Bericht einer Betroffenen

Angelika Lonnemann


Es gibt den Mythos von der angeborenen, bedingungslosen Mutterliebe, die die Frauen in der Erfüllung ihrer Mutterrolle mit größtem Glück belohnt. Dieser Mythos würde vor allem Männern nützen, schrieb die ehemalige Philosophie-Professorin Élisabeth Badinter schon vor Jahren.

Als 15-Jährige begehrte ich gegen meine Mutter auf. Obwohl ich wusste, wie wichtig ihr der jährliche Muttertag war und mein kleines Geschenk für sie, das sie Jahr für Jahr treu von mir erhalten hatte, überreichte ich ihr in diesem Jahr absichtlich nichts. Tage später sagte sie mir, wie traurig sie deswegen gewesen sei. Aber anstelle ihr entgegenzuschleudern, dass das pure Absicht gewesen sei, weil ich nicht der formalisierten Regel folgen wollte, murmelte ich kleinlaut, dass es mir leid tue.

Meinen eigenen Kindern brachte ich sehr schnell bei, dass ich an jedem von 364 Tagen im Jahr offen sei für Lobpreisungen, Präsente und Danksagungen, niemals jedoch am ritualisierten Muttertag. Der Effekt war, dass ich tatsächlich am Muttertag verschont wurde von Kitsch und Blumen und holden Versen – jedoch auch an den übrigen Tagen keine Anerkennung meiner Mütterlichkeit erhielt.

Ich habe unter anderem Filmphilologie studiert und mich mit Bildsprache und Semiotik beschäftigt. Sah ich Bilder in der Zeitung oder im Fernsehen von Krieg, Hunger, Leid oder Tod, dann habe ich das intellektuell verarbeitet und in mein Bild von der Welt integriert. Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, sah ich auf der Titelseite einer Zeitung einen Soldaten, der von einem Auslandseinsatz zurückgekehrt war. Er hatte sein Kleinkind auf dem Arm und neben ihm stand seine sichtbar glückliche Frau, ein Schild «welcome home» in der Hand. Ich brach in Tränen aus. Und staunte, was mir da gerade geschehen war. Hatten mich die Hormone in die Epoche der Empfindsamkeit katapultiert? Menschen und Tiere haben den sogenannten Beschützerinstinkt, der unter anderem vom Kindchenschema ausgelöst wird. Dieses Verhalten ist aber bei Männern und Frauen identisch, haben Forschende unter anderem an der Universität von Virginia herausgefunden.

Die meisten Eltern erleben dieses tiefe Gefühl, wenn sie ihr Neugeborenes im Arm halten – ein überwältigendes Bedürfnis, dieses kleine Wesen zu schützen und vor allem Leid zu bewahren. Bei mir begann gleichzeitig eine neue Zeitrechnung und eine neue Religiosität: «Auch wenn ich nicht an Dich glaube, lieber Gott, mach, dass ich wenigstens noch drei Jahre lebe, damit dem Kind nicht in diesen wesentlichen Jahren die Mutter wegstirbt und damit bleibende psychische Krankheiten entstehen». Je länger ich weiterleben durfte, desto später wurden die Zeitpunkte, die ich mir weiterhin erbat: lass mich den Schulanfang noch erleben, lass mich die Pubertät noch erleben, die Abiturfeier, und so weiter. Inzwischen bin ich das erste Mal Großmutter und kann immer wieder ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit empfinden, dass ich meine Kinder beim Aufwachsen und Erwachsenwerden begleiten durfte. Oft denke ich, dass ich Gott eigentlich vor allem dafür bräuchte, damit ich mich mal so richtig bei jemandem bedanken könnte.

Auch wenn ich kurz nach der Geburt des ersten Kindes wieder als freie Journalistin gearbeitet habe und wir uns den Haushalt geteilt haben, war ich die mit dem großen Überblick über alle Kinderbelange, heute Mental Load genannt. Wann werden dem Kind die Schuhe zu klein, was schenken wir Kindergartenfreundin Lisa, wann ist die nächste Impfung fällig? Irgendwann hörte ich immerhin auf, Geschenke für den Geburtstag meiner Schwiegermutter zu besorgen. Niemals vergesse ich das Gefühl der Freiheit, das ich hatte, als die Jüngste so alt geworden war, dass wir sie sorglos allein lassen konnten. Ich war wieder Herrin über meine persönlichen Berufs- und Privatkalender geworden. Als ich als Lokaljournalistin mein Baby mit zur Arbeit auf Termine nahm, fanden die Frauen, mit denen ich die Termine hatte, das großartig. Die Männer konnten zunächst nicht glauben, dass ich die Journalistin sein sollte, ich hatte ja ein Kind dabei. Manche blieben dauerhaft irritiert.

Ich wollte immer beides – arbeiten und Kinder haben. Die jüngste Tochter nahm ich nach dem Mutterschutz mit ins Büro, wo ich drei mal vier Stunden arbeitete. Ich hatte mit dem Arbeitgeber einen Deal gemacht: ich komme drei mal fünf Stunden für den gleichen Lohn, bringe aber mein Kind mit. Das war 2002 ein sehr fortschrittlicher Arbeitgeber.

Viele Menschen entscheiden sich gegen Kinder, manche berichten davon, dass sie nie Nähe zu ihren Kindern empfunden haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Elternsein mich verändert hat und eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Ich wehre mich dagegen, den Mythos der Mutterliebe zu propagieren, ich bin überzeugt davon, dass Väter genauso tief lieben und sich kümmern. Die Gesellschaft ist zwar auf dem Weg, die klassische Rollenverteilung zu ändern, aber längst noch nicht am Ziel einer gerechten Aufteilung von Job und Care-Arbeit für alle Geschlechter. Konservative Politiker:innen propagieren wieder ein traditionelles Familienmodell, das im krassen Gegensatz steht zu allen Fortschritten, die Frauen in den vergangenen 100 Jahren erkämpft haben. Wir brauchen Gesellschaftsmodelle und Einrichtungen, damit Mütter und Väter, egal in welchem Familienmodell sie leben, Mutterliebe und Vaterliebe genießen und ausleben können. Alle Eltern brauchen Zeit und Raum für die Kinder, für sich als Paar und für sich allein.

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