Ausgabe 09/23

Berlin, ick liebe dir!

Markus Schulze

In den Jahren vor 1999 haben Klassen unserer Schule gelegentlich den Bundestag in Bonn besucht. 1998 führte die Meldung über die Auflösung der RAF, die Bundestagswahl mit Regierungswechsel und der Umzug der Regierung nach Berlin zu einer Reihe von Fragen der Schüler:innen, die die Beschäftigung mit Politik und Geschichte intensivierte. Also machten wir mit der damals bereits 13. Klasse eine Fahrt nach Berlin mit einem Besuch im Bundestag. Seitdem machen wir sie jedes Jahr, in der Regel im Herbst, wenn in NRW die erste Klausurrunde fürs Abitur geschrieben ist. Nach zweieinhalb Monaten Fokussierens auf die kognitiven Fächer bringt die Fahrt aktive, interessante Abwechselung und scheint sich für die Verarbeitung dieser Zeit gut zu eignen. Während der politischen Klassenfahrten nach Berlin haben wir neben den Orten der heutigen Politik und denen der NS-Zeit auch Orte der Aufklärung, der Demokratie allgemein, der Emanzipation sowie Orte zur Geschichte der DDR besucht.
In der Regel fahren wir von Mittwoch bis Samstagabend, da in den Sitzungswochen nur am Donnerstag und Freitag Plenarsitzungen stattfinden. Die gängige Variante ist der Besuch der Abgeordneten des eigenen Wahlkreises, ein Gespräch mit ihnen, die Teilnahme an einer Plenardebatte, ein Imbiss und ein Besuch der Kuppel. Unser Ziel ist es jeweils, mit Abgeordneten aller Parteien Gesprächstermine zu vereinbaren. Das ist von der Organisation her aufwendiger, hat aber funktioniert. Für diese Gespräche ist es sinnvoll, sich auf eine Thematik zu einigen, die die Schüler:innen besprechen wollen und auf die sich die Abgeordneten vorbereiten können.
Der Besuch des Bundestages beginnt mit der Wahrnehmung der Gebäude, bei denen in meinen Augen zwei Merkmale besondere Aufmerksamkeit verdienen: die Kuppel und das Band des Bundes. Die Kuppel tritt als architektonisches Element vor allem bei Sakralbauten auf und der Architekt Sir Norman Foster lehnte sie am Anfang ab, da er darin eine Machtdemonstration sah, die einer modernen Demokratie nicht entspräche. Erst als ein Konzept entstand, das seinem Anspruch an Transparenz gerecht wurde, war Foster bereit, eine Kuppel zu entwerfen: Die Kuppel ist der Bevölkerung ständig zugänglich, dient als Aussichtsplattform und zugleich, durch den gläsernen Boden, auch als Einsicht in den Plenarsaal. Und die Abgeordneten haben einen Blick nach oben auf den eigentlichen Souverän, die Bevölkerung. Außerdem erfüllt die Kuppel höchste ökologische Ansprüche: In ihrem Zentrum befindet sich in Form eines karottenförmigen Zylinders ein hochkomplexes Lichtumlenksystem. Mit 360 Einzelspiegeln verkleidet, sorgt es für helles Licht im zehn Meter tiefer gelegenen Plenarsaal.
Als Band des Bundes wird die Anordnung wesentlicher Regierungsgebäude bezeichnet, die sich in einer Reihe befinden: das Kanzleramt, das Paul-Löbe-Haus und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Zwischen diesen beiden verläuft die Spree, die ehemalige Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Beide Gebäude sind mit einer Brücke verbunden und auch beide Ufer mit einer Brücke, die darunter verläuft. Diese so verbundenen Gebäude bilden dann das Band, das die Verbindung der beiden ehemals getrennten deutschen Staaten zum Ausdruck bringen soll.
Bereits beim Warten auf den Einlass auf der Ebene der Besucher:innentribüne konnten wir auf Monitoren lesen, wie die Abfolge der Redner:innen ist. Im Plenarsaal begann der Versuch, einzelne Minister und Abgeordnete zu identifizieren und in der Regel machte sich Enttäuschung breit, dass so wenige Abgeordnete und Minister:innen anwesend waren und dass sie dann zum Teil auch noch mit anderen Dingen beschäftigt zu sein schienen.
Diese Enttäuschung legte sich aber bei den Gesprächen mit den Abgeordneten, die ihren Tageslauf beschrieben und davon berichteten, dass die eigentliche Arbeit in den sogenannten Ausschüssen erfolge, die es zu jedem Themenbereich gebe. Von dem Engagement der Abgeordneten waren die Schüler:innen in den meisten Fällen beeindruckt. Die Gespräche wurden zunehmend interessanter, da die Schüler:innen die Aussagen der einzelnen Abgeordneten aufgriffen und im nächsten Gespräch verwendeten. So zum Beispiel 2003 den Vorwurf der FDP, dass die Antikriegsposition der rot-grünen Regierung lediglich Wahlkampf gewesen sei. Die Abgeordnete der Grünen wies das zurück, da diese Position direkt nach dem 11. September 2001, nach Bushs Ankündigung des «Krieges gegen den Terror», beschlossen worden sei. Die Schüler:innen sprachen den Punkt auch bei der CDU-Abgeordneten an, ob es von Angela Merkel, die damals in der Opposition war, der Regierung gegenüber nicht illoyal gewesen sei, mit einer betonten Zustimmung zum Krieg in die USA zu reisen? Die CDU-Abgeordnete verneinte das mit dem Hinweis darauf, dass es auch in Deutschland unterschiedliche Haltungen gäbe. Diese Kontroverse fanden die Schüler:innen sehr interessant.
2005 hatten wir das Thema Umwelt und Gentechnik ausgewählt und uns gründlich vorbereitet. Eine Schülerin fasste die Gespräche hinterher folgendermaßen zusammen: «Wir erkannten bald, welche Vertreter:innen sich wirklich auskannten, und löcherten die anderen (bei der FDP fanden wir ein besonderes Opfer), bis diese mit dem Repertoire ihrer Argumente an ihre Grenze kamen.» Die meisten Abgeordneten bemühten sich, auch die kritischen Fragen der Schüler:innen zu beantworten. Dies ist ihnen nicht immer in einer für die Schüler:innen befriedigenden Weise gelungen. Dass die Abgeordneten durch die Fragen der Schüler:innen zum Teil gefordert waren, war für die Schüler:innen eine sehr positive Erfahrung.
Es gab nicht von vornherein den Konsens, mit allen Abgeordneten zu sprechen. 1999 diskutierten wir, ob wir die PDS, die Nachfolgepartei der SED, mit einbeziehen sollten und entschieden uns letztendlich dafür. Eine Schülerin fragte damals: «Die SED war verbrecherisch. Wie stehen Sie denn dazu?» Barbara Höll antwortete: «Ich bin mit 18 in die SED eingetreten. Man kann seine Geschichte nicht wegschmeißen.» Sie erläuterte, dass die PDS nicht die SED sei, es einen Prozess der Umformung gegeben habe, indem sich die Partei von entscheidenden Grundsätzen der SED distanziert habe.
2017 gab es erneut eine Diskussion, diesmal, ob wir einen Abgeordneten der AfD besuchen. Auch hier fiel die Entscheidung dafür aus, aber erst 2019 ist es uns gelungen, einen solchen Besuch zu organisieren. Bei diesem kam kein Austausch zustande. Das Treffen gestaltete sich seitens des Abgeordneten und seiner Mitarbeiter:innen als ein sehr einseitiger Belehrungsversuch, auf den die Schüler:innen mit Fragen reagierten und versuchten, die einseitigen und in ihren Augen zum Teil falschen Behauptungen als solche zu benennen. Unsere Gesprächspartner:innen gingen darauf leider nicht ein. Nach ereignisreichen Tagen wie diesen trafen wir uns stets zum gemeinsamen Besuch im Theater, Kino oder Stadtspaziergang mit gastronomischen Pausen.
Nach dem Besuch des heutigen Regierungsviertels ging es am nächsten Tag in das alte Regierungsviertel, das vom wilhelminischen Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestand: die Wilhelmstraße. Sie beginnt etwa 150 Meter östlich des Reichstagsgebäudes und verläuft in südlicher Richtung. An ihr lagen im Bereich zwischen Unter den Linden und der Leipziger Straße die wesentlichen Regierungsgebäude des Kaiserreiches, die entweder im Zweiten Weltkrieg zerstört, beschädigt oder von der DDR-Regierung abgerissen wurden. Zwischen Leipziger- und Niederkirchnerstraße steht das monumentale ehemalige Reichsluftfahrtministerium, das 1935 von den Nationalsozialisten erbaut, von der DDR als Haus der Ministerien genutzt wurde und heute das Finanzministerium beherbergt. An seiner nördlichen Seite befindet sich ein Denkmal zur Erinnerung an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. An seiner südlichen Seite verläuft die Niederkirchnerstraße, die früher den Namen Prinz-Albrecht-Straße trug. Dort befanden sich im Dritten Reich die Gestapo-Zentrale, das Reichssicherheitshauptamt und die Reichsführung SS. Bauten, in denen die Überwachung, Verfolgung und Ausschaltung aller politischen Kräfte, die der NS-Staat als seine Gegner betrachtete, stattfand. Diese Gebäude lagen in der Nachkriegszeit im Niemandsland zwischen West- und Ost-Berlin und wurden in den 50er-Jahren von der DDR-Regierung gesprengt. Der Westen scheint nicht interveniert zu haben, weil man in den 50er-Jahren nicht bereit war, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich auch noch genügend Nazis in gesellschaftlich verantwortlichen Positionen befanden. 1961 wurde entlang der südlichen Seite der Niederkirchnerstraße die Mauer gebaut und erst Ende der 70er-Jahre kam es zur Wiederentdeckung der Bedeutung dieses Ortes und verschiedene Organisationen forderten ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Gelände.
1986 wurden bei Ausgrabungen Kellergeschosse dieser abgerissenen oder gesprengten Gebäude freigelegt, die Zellen enthielten, in denen Personen festgehalten und gefoltert wurden. Diese Zellen der Kellergeschosse bildeten den Grundstock für das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, dass sich heute in einem direkt daneben liegenden Gebäude befindet. Von dort gelangt man Richtung Norden vorbei am Ort von Hitlers Neuer Reichskanzlei und einem Hinweisschild auf den Ort des ehemaligen Führerbunkers zum Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas, einem großen Stelenfeld, das erst 2005 fertiggestellt wurde. Beeindruckend ist auch der Ort der Information unter dem Stelenfeld, in dem an die Schicksale Einzelner anhand von Tafeln und Bildern erinnert wird. Zu diesem Rundgang zwei Äußerungen von Schüler:innen: «Ich finde es gut, wie die Menschen anhand von Museen und Gedenkstätten versuchen, ihre Geschichte aufzuarbeiten.» und «Wieviel Aufwand Berlin betreibt, die alten Gebäude wieder aufzubauen, um an die vergangenen Verbrechen zu erinnern, um künftige Generationen darauf aufmerksam zu machen und zu warnen!»

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