Es ist Dienstag, kurz nach acht Uhr. 35 Erstklässler:innen stehen ungeduldig in einer Reihe und warten darauf, von Sabine Zaha begrüßt und ins Klassenzimmer gelassen zu werden. Theresa tuschelt mit ihrer Freundin und versucht, einen Blick auf das Innere des Raums zu erhaschen. «Hoffentlich gibt es wieder den Turm zum Runterspringen», flüstert sie.
Ihr Wunsch wird erfüllt. Im Klassenzimmer wartet nicht nur der Sprungturm, sondern ein Parcours mit unterschiedlichen Aufgaben. Vier Erstklässler:innen haben ihn zusammen mit Sabine Zaha am Vortag aufgebaut. Aktuell zweimal pro Woche, immer dienstags und donnerstags, wird der Raum der ersten Klasse zum Bewegten Klassenzimmer: Aus Tischen, Balken, Leitern, Sitzkissen und Tüchern entsteht ein Rundkurs, dessen Aufbau zwar jedes Mal variiert, seine Elemente sich aber meist ähneln. Stationen zum Klettern, Balancieren, Hüpfen, Kriechen, Robben und Springen sind immer dabei, wechseln sich in Reihenfolge und Schwierigkeitsgrad ab. «Der Parcours zeigt, wo die Klasse gerade steht. Was brauchen die Kinder, wo haben sie noch Entwicklungsbedarf, woran können sie wachsen, mutiger und geschickter werden», erklärt Sabine Zaha, die am liebsten jeden Morgen mit dem Bewegten Klassenzimmer starten würde. «Es ist für die Kinder viel schöner, in der Bewegung hier anzukommen, als sich gleich hinsetzen zu müssen», sagt sie.
Seit 2009 ist das Bewegte Klassenzimmer fester Bestandteil der Unterstufe an der Waldorfschule Gröbenzell. Eingeführt hat es die Klassenlehrerin Ingeborg Tinhofer in ihrer damaligen ersten Klasse, die im vergangenen Schuljahr Abitur gemacht hat. Entwickelt wurde das Konzept in den 1990er Jahren in der Rudolf Steiner Schule Bochum als Ergebnis eines Innovationsprozesses. Eine Gruppe des Lehrerkollegiums setzte sich damals mit der Frage auseinander, welche Fähigkeiten Kinder brauchen, wenn sie in die Schule kommen und definierte fünf Eigenschaften: Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Selbstständigkeit, Kooperationsfähigkeit und Zeitgefühl. Gleichzeitig stellten die Pädagog:innen aber auch fest, dass immer weniger Kinder diese Fähigkeiten zum Schulstart ausgebildet hatten. Verhaltens- und Lernschwierigkeiten waren die Folge.
Als Antwort auf die Frage, was die Schule anbieten muss, damit die Kinder die fehlenden Kompetenzen noch entwickeln können und somit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten gar nicht erst auftreten, wurde das Konzept des Bewegten Klassenzimmers erfunden. An rund 400 der weltweit 1.100 Waldorfschulen kommt es mittlerweile bei der ersten und zweiten Klasse zum Einsatz, einige Schulen haben auch weiterführende Konzepte entwickelt. An den Waldorfseminaren gibt es spezielle Schulungen zum Bewegten Klassenzimmer, auch die Gröbenzeller Lehrer:innen haben sie besucht.
Fantasie, Bewegung und Lernen, wie geht das zusammen? Eine Frage, auf die die Waldorfpädagogik gute Antworten hat. Hier wurde schon immer über das Kognitive hinaus die körperliche und psychische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefördert. Gelernt wird mit allen Sinnen, mit Körper, Geist und Seele. So sind die ersten Lernerfolge eines Kindes Bewegungen wie das Greifen, Krabbeln, Aufstehen und Laufen. Durch sie gewinnt es Selbstvertrauen und Selbstständigkeit. Das Konzept des Bewegten Klassenzimmers sieht vor, die Kinder durch Bewegungsspiele zu unterschiedlichen Sinneserfahrungen anzuregen. Ein Wechsel von Ruhe und Bewegung, Besinnung und Aktivität soll dabei die Grundlage bilden. «Es ist bemerkenswert, zu sehen, welche Möglichkeiten das Konzept bietet, um den Lernprozess zu unterstützen. Balancieren fördert die Konzentration, Hüpfkästchen helfen beim Zählen, Buchstaben können ertastet oder gelaufen werden», erklärt Sabine Zaha.
Voraussetzung für die Kombination von Bewegung und Lernen sind ein geeigneter Raum und vielfältig nutzbares Mobiliar. Die robusten Sitzkissen lassen sich zu Treppen und Hügeln aufstapeln, bilden Inseln oder Hindernisse. Die Tische werden zu Podesten und Türmen, geraden oder schiefen Ebenen, Höhlen und Brücken. Und dreht man den Tisch um, lässt sich auf dem Holm auch noch prima balancieren. Zusätzliche Elemente wie Leitern, Balken und Tücher ergänzen das Schulmobiliar. Und auch schöne, mit Sand gefüllte Holzkästen, in denen die Kinder mit den Fingern malen können, gehören dazu – eine wunderbare sinnliche Erfahrung.
Eine gute halbe Stunde ist um, fast alle Kinder haben sich nach ihrer letzten Runde in der Mitte auf dem Teppich versammelt und schauen in ihr Leseheft, in das die Eltern Wörter aus bunten Großbuchstaben für sie geschrieben haben. «Das Zusammenkommen am Schluss in der Mitte ist sehr wichtig. Die Kinder kommen zur Ruhe, es ist eng, sie spüren nach der freien Bewegung die Berührung links und rechts durch ihre Mitschüler:innen und müssen das auch aushalten können», sagt Sabine Zaha. Als es still geworden ist, gibt sie das Zeichen zum Abbauen und Aufräumen. Schnell wird aus dem Parcours wieder ein Erstklasszimmer mit Sitzkissen vor den Tischen. Die Rechenepoche kann beginnen. Es ist ein guter Start in den Schultag, wenn die Klasse schon viele Aufgaben mit Spaß und Erfolg bewältigt hat.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.