Ich sitze am Klavier und übe eine Begleitstimme von Gabriel Faurés «Après un rêve». Im Sinne des Töneproduzierens kann ich die Stimme rein nach ihrem Toninhalt üben und repetitiv wiedergeben. Dies kann zur technischen Perfektion fortgeführt werden. Erweitere ich mein Bewusstsein jedoch auf den innermusikalischen Gehalt der Töne, sprich auf das, was die Musik in der Tiefe im Menschen bewegt, tauche ich mit allem, was ich bin, denke, fühle und will in den Strom der Musik ein: Ich lebe im Moment. Ich kann in den Zeiten der Zeitlosigkeit sogar für einen kurzen Moment die Zeit anhalten, indem ich die musikalische Spannung ein wenig länger als gewohnt halte. Dies ist das Paradoxon der Spannung: Ich verbrauche Energie und gewinne gleichzeitig unglaublich viel neue Energie. Ich gebe mich der Musik also hin und gestalte die Phrasen nach ihrem organischen Prinzip. Ich folge meinem Körper, denn die Musik fließt durch mich hindurch und ich entscheide mich, alle Zweifel und Ängste des Fehlermachens loszulassen. Auf diesem Weg ist die Musik nicht mehr identitätslos, sondern bekommt Tiefe und Fülle. Paradoxerweise passiert dies erst durch die Auflösung und Hingabe von mir als Mensch an die Musik. Dabei ist wichtig zu sagen, dass man sich durch das Öffnen, Weichmachen, Wärmespenden, Hingeben und Fallenlassen zwar nackt und verletzlich macht, jedoch nicht seine Identität verliert. Erstaunlicherweise passiert meist genau das Gegenteil: Man findet seine eigene wahre Größe und Identität erst durch das Loslassen der Angst, die die Hand an der Tür zur Liebe hält. Ob die Angst dem Mut weicht und die Tür für Wachstum geöffnet wird, muss jedoch jeder selbst entscheiden.
In diesem vielschichtigen und komplexen Zusammenhang wird besonders ein Thema immer deutlicher: das «Loslassen». Hat jemand beispielsweise eine sehr starre oder unbewusste Körperhaltung, wird die Musik in ihrem Fluss an bestimmten Punkten gestoppt. Dies passiert auch, wenn sich seelische Blockaden aufbauen, die dazu führen, dass Menschen an bestimmten Dingen oder Gedanken festhalten wollen. Erst, wenn man sich in eine offene Haltung der Selbstliebe begibt, kann sich die Musik in ihrer wahren Tiefe ausbreiten und einen ganz «durchfluten». Daher zeigt die Musik unmittelbar auf, was wir fühlen und denken, sie ist sozusagen der Spiegel unseres Herzens.
Das Gefühl, ganz und gar bei sich und vollkommen in seinem Körper angekommen zu sein, ist etwas, das man sich heutzutage ganz bewusst ergreifen muss. Die moderne Welt ermöglicht es uns, Dinge und Aufgaben des Alltags in maximaler Bequemlichkeit zu erledigen, sodass sich das Gefühl und die Beziehung zum eigenen Körper schnell in ein dumpfes «Dasein» verwandeln können. Heutzutage lässt sich jedoch beobachten, dass sich viele Menschen in ihrem Körper nicht mehr wohlfühlen und sich verändern oder optimieren wollen.
Unser Körper ist untrennbar mit uns verbunden und ein Leben lang unser engster Begleiter. Daher wirken das Wissen, das Gefühl und die Einstellung, also unser Körperkonzept, stark auf die Bildung einer persönlichen Identität. Wir sind als Menschen schon immer dazu veranlagt, zu gehen und in Bewegung zu bleiben, weshalb, besonders in der Pädagogik und der musikalischen Arbeit mit anderen Menschen, der Blick wieder auf den Zusammenhang zwischen Körper, Seele und Geist gerichtet werden sollte.
Der Körper gibt das Tempo vor
Musikalische Prozesse sind künstlerische Prozesse, in denen der Mensch in seiner Ganzheit innerlich und äußerlich erfasst wird. Dies bedeutet, dass Körper, Seele und Geist in eine Schwingung geraten und einander berühren. Diese Annahme wird in vielen Konzepten und Ideen des Musikunterrichts jedoch kaum betrachtet. So wird häufig kognitives Wissen in Form von theoretischen Ausarbeitungen vermittelt, sodass sich Schüler:innen überfordert fühlen. Zudem wird die Musik zu einem Fach, das zunehmend intellektualisiert und alltagsfremd wird. Auch im Rahmen des Instrumental- und Gesangsunterrichts sollten musikalische Prozesse alle Bereiche des Menschen berühren. Dann kann eine künstlerische Auseinandersetzung stattfinden, die in die Tiefe geht und den Menschen von innen herausbildet.
Die Bedeutung des Körperbewusstseins spielt im Kontext der Instrumentalpädagogik bisher eher eine geringe Rolle, da meist spezifische und technische Übungen zu einer Leistungsverbesserungen führen sollen. In der Wahrnehmungsfähigkeit des eigenen Körpers liegt jedoch eine entscheidende Kraft, die die individuelle musikalische Ausdrucksfähigkeit beeinflussen und verfeinern kann. Betrachtet man beispielsweise Gang, Körperhaltung oder Körpersprache eines Menschen, lassen sich viele Aufschlüsse über seine Haltung zu sich und dem eigenen Körperbewusstsein finden, da sich seelische und geistige Prozesse auch körperlich ausdrücken können.
Musik braucht Identität
Die eigene Identität, Gefühle und Gedanken drücken sich unmittelbar im Prozess des Musizierens aus. Dies lässt sich genauer betrachten, indem man die Augen schließt und in den Klang hineinhorcht. Was spricht durch das Wort? Wer singt durch die Stimme? Wer und was erklingt in der Tiefe? Musizieren kann einerseits ein Prozess sein, in dem verschiedene Töne in einer Melodie, Rhythmik oder harmonischen Abfolge erklingen. Dabei kommt es besonders auf das Korrekte und Richtige im Spiel an. Es handelt sich sozusagen um ein «Töneproduzieren», wobei die Musik ohne eine Verbindung zum Klang und zum Ausdruck der persönlichen Identität erklingt. Weiterführend könnte man auch von einem «identitätslosen» Gehalt des Musizierens sprechen. Dieses Phänomen findet sich in der heutigen Musikkultur und der Ausbildung an Musikhochschulen sehr häufig, beispielsweise in der frühkindlichen musikalischen Ausbildung von sogenannten «Wunderkindern». Werden Leistung und das korrekte Spielen zur musikalischen Identität, ergeben sich im späteren Verlauf des Lebens daher häufig Fragen nach der persönlichen und musikalischen Identität.
Im Moment des Singens oder Klavierspielens gibt es Stellen, an denen die Musik eine bestimmte Energie und Richtung aus sich heraus vorgibt. Diese ergibt sich aus dem in sich selbst vollkommenen geistigen Gehalt der Musik. Anstatt die Noten richtig spielen zu wollen, sollte sich das Ziel musikalischer und künstlerischer Gestaltung vielmehr nach der Plastik der Musik selbst richten. Denn, wenn man tiefer in den Klang und die Gestaltung hineingeht, kann ein sozialer und musikalischer Raum plastiziert werden. Die Gestaltung ergibt sich aus einem organischen Prinzip. Dies bedeutet konkret zum Beispiel, dass uns unser Körper bei der Phrasengestaltung helfen kann, wir müssen ihm dafür nur ausreichend Bewusstsein und Zuwendung schenken.
Entscheidet man sich für diese Art des Musizierens, kann seelisch-geistiges Wachstum entstehen. Der zuvor beschriebe Schritt ist vergleichbar mit einem Tanz auf einem Drahtseil. Ein Freund sagte mir einmal, ich könne mich im Prozess des Musizierens doch nie anlehnen oder es mir gemütlich machen. Sonst würde man bewusstseinsmäßig innerlich einschlafen und die wahre Größe und Kraft der Musik verpassen. Man würde sonst einfach an der Oberfläche «darüber hinwegdämmern». Stattdessen verdiene die Musik meinen vollsten Respekt, Klarheit im Körper und Wachheit im Geist, sodass ich nicht anders kann, als mich beim Klavierspielen auf die Stuhlkante zu setzen und mein ganzes Ich als Ausdrucksmedium zu benutzen. Ich nenne es seitdem mein «Stuhlkanten-Motiv».
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