Ausgabe 10/23

Bildhaftes Lernen

Katrin Kühne

«Heute erzähle ich euch von einem Tier. Das Tier ist groß – ungefähr zwei bis drei Meter – und schwer. Sein braunes Fell ist buschig und ganz weich. Es hat einen breiten Kopf mit runden Ohren. Aus seinen dunklen, kleinen Augen schaut das Tier neugierig durch den dichten Wald, wo es wohnt. Mit seiner langen, schmalen Schnauze erschnüffelt es wohlschmeckende Pilze, Nüsse und Beeren.»
Dienstagabend in der Freien Waldorfschule Leipzig: Es ist ganz still im Raum, während Valerie Flämig mit ausholender Gestik und Mimik einen Bären beschreibt. Der ist Unterrichtsgegenstand in der fünften Klasse. Ausnahmsweise erzählt die Handarbeitslehrerin aber nicht vor einer Klasse, sondern vor einer Gruppe Eltern aus Waldorfkindergärten und -schulen der Region. Die sitzen im Halbkreis im großen Musikraum der Schule und lauschen gebannt den Ausführungen der Lehrerin.

Ein Bild vom Bären

Wie auf samtigen Pfoten bewegt sich die Pädagogin vor den Anwesenden durch den Raum, angelt mit einer Hand einen Lachs aus dem imaginierten Fluss und schüttelt ein wohlriechendes Bienennest vom Baum. Mit Worten und Gebärden beschreibt sie den Gang des Bären vom Frühling bis in den Winter. Die Erzählung endet beim Nachwuchs, der bei der ersten Schneeschmelze nach der Winterruhe neugierig die Umgebung erkundet und mit dem der Kreislauf von Neuem beginnt.
Im Raum nebenan tüftelt eine zweite Gruppe von Eltern am Bild des Bären. Unter Anleitung von Klassenlehrerin Cornelia Debus haben sie den Auftrag, das große Tier darzustellen – auf Papier mit verschiedenfarbigen Wachsmalern, Kreiden, Buntstiften, Schere und Kleber. Die Pädagogin vermittelt einige Informationen zu Aussehen, Verhalten und Lebensraum und verteilt Arbeitsblätter. Allein oder in kleinen Gruppen machen sich die Anwesenden ans Werk. Auch die Gruppe um Valerie Flämig soll nun ein Bild gestalten. Alle suchen sich Papier und bevorzugtes Material aus. Dann versinken alle für zwanzig Minuten in konzentriertem Malen und Zeichnen.

Experiment mit Eltern

Hintergrund des eben beschriebenen Workshops Wurzeln pflegen, Flügel ermöglichen ist die Frage: Wie lernt das Kind im zweiten Jahrsiebt? Und wie können Eltern und Schule zu einer gesunden Entwicklung in dieser Phase zwischen dem siebten und 14. Lebensjahr beitragen? Unter Begleitung von Cornelia Debus und Valerie Flämig gingen die Teilnehmer:innen diesen Fragen im Workshop  nach. Initiiert wurde die Veranstaltung von der Elternschule der Waldorfschule Leipzig. Der Arbeitskreis, bestehend aus Müttern und Vätern der Schule, bringt interessierten Eltern die Grundlagen der Waldorfpädagogik näher.
Für den Workshop haben sich die Pädagoginnen etwas Besonderes ausgedacht. «Wir wollten für die Eltern erlebbar machen, was Waldorfpädagogik und insbesondere bildhaftes Lernen eigentlich bedeutet», erklärt Cornelia Debus, Klassenlehrerin der 2a. Das Experiment: ein Thema, zwei Gruppen, zwei Ansätze. Gruppe eins um Valerie Flämig wird mit einer lebendig erzählten Geschichte über eine bildhafte Ebene angesprochen. Gruppe zwei um Cornelia Debus nähert sich dem Thema Der Bär auf einer kopfbetonten Ebene mit Sachinformationen und Arbeitsblättern. Die Inhalte sind dieselben wie auch die Aufgabenstellung im Anschluss.

Bilder für Kopf und Seele

Nachdem beide Gruppen ihre Bilder fertiggestellt haben, breiten sie diese in großer Runde aus, betrachten und besprechen sie. In der einen Hälfte des Kreises tummeln sich Bärenporträts, auf denen der Waldbewohner teilweise recht genau und raumfüllend abgebildet ist und den Betrachtenden direkt ansieht. Die Bilder der anderen Hälfte zeigen mehrheitlich Motive mit Bärin und Nachwuchs im Wald, neben einem geschlängelten Bach – eine Momentaufnahme des Bären in seiner Lebensumgebung.
Die beiden Lehrerinnen wollen wissen, wie es den Eltern bei der Gestaltung der Bilder ergangen ist. Gruppe zwei meldet zurück, anfangs etwas überfordert mit der Aufgabenstellung gewesen zu sein. «Wir wussten nicht genau: Sollen wir den Bären jetzt sehr detailliert zeichnen? Was ist wichtig und was nicht? Machen wir alles richtig?»
Die Eltern aus Gruppe eins sind sich indes einig: Die gehörte Erzählung vom Bären hat sie so in den Bann gezogen und mit Bildern erfüllt, dass ihnen das Malen im Anschluss recht leicht fiel. Alle brachten den Teil der Geschichte zu Papier, der etwas im eigenen Inneren zum Klingen gebracht hatte.

Entwicklung im zweiten Jahrsiebt

Etwas im Inneren zum Klingen bringen und die Gedankenwelt mit inspirierenden Bildern füllen – darum geht es im zweiten Jahrsiebt. Gemäß der anthroposophischen Lehre werden mit dem Zahnwechsel Denkkräfte frei, die sich im Kind als lebendige Bildwelt entfalten. «Je bildhafter die Lerninhalte an das Kind im Schulreifealter herangeführt werden, desto mehr kann seine eigene Bildwelt wachsen», erklärt Cornelia Debus. Das wiederum wirke sich auf das spätere Denken aus: Es werde gestärkt und lebendig. Dabei nehme das Kind nur das aus der umgebenden Welt heraus, was seine eigene Bildwelt am meisten bereichere.
Die Pädagogin ist überzeugt: «Unser Denken muss wieder so lebendig werden, dass wir die gegenwärtigen festen Denkformen überwinden und neue Ideen finden können.» In der Waldorfschule wird diese freie Entfaltung des Denkens unterstützt durch das bildhafte Unterrichten. Das hinterlässt Eindruck, wie der abschließende Kommentar einer Teilnehmerin verdeutlicht: «Die Geschichte über den Bären hat meine Seele berührt. Wie er auf die Jagd geht und seine Kleinen in der Winterhöhle großzieht, daran werde ich mich sicher noch in zehn Jahren erinnern.»

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