Ausgabe 12/24

Bothmer Gymnastik ist singende Architektur

Dmitry Milakov

Bothmer Gymnastik hat zwei Hauptanliegen: Erstens einen altersgerechten Turnunterricht zu ermöglichen. Die Übungen sind zur Ausbildung des Bewusstseins, der Wahrnehmung und der körperlichen Fähigkeiten geeignet und unterstützen die Bildungsprozesse der Seele und des Körpers. Zweitens die künstlerische Entwicklung des menschlichen Körpers anzuregen. 
 

In der Bothmer Gymnastik geht es nicht um eine Dressur des Leibes, oder darum, bestimmte Leistungen zu erlangen, sondern sie schult den Menschen, seinen künstlerischen Geschmack und seine Sinne. Die Bothmer Gymnastik ist eine freie und sinnvolle Art, mit dem Körper umzugehen. Der sich bewegende Mensch zeichnet Linien und Figuren im Raum, und diese räumlichen Formen wirken als Kräfte auf ihn zurück, wodurch sich sein Körper in Richtung dieser Kräfte ausbreitet und mit ihnen in Einklang kommt. Es gibt keine Beschränkung, die Bothmer Übungen helfen allen Praktizierenden, einen künstlerischen Geschmack zu entwickeln, denn die Bewegung bildet das Denken aus und entwickelt die innere Kultur. Auch eine Beschreibung der Waldorfpädagogik wäre unvollständig, würde man nicht auch über die Bothmer Gymnastik sprechen; die Gymnastik, die ihren Ursprung in der Gründungszeit der Waldorfschule hatte.  


Die Bothmer Gymnastik ist nach ihrem Schöpfer Friedrich Graf von Bothmer benannt. Er quittierte den Militärdienst nach dem Sturz der bayerischen Monarchie und wurde auf Rudolf Steiners Anfrage hin Turnlehrer an der ersten Waldorfschule. Ob die persönliche Bekanntschaft mit Rudolf Steiner, die Leidenschaft für die Anthroposophie, die Liebe zu den Kindern, eine alte Freundschaft mit einem der Lehrer oder eine Kombination von alldem ausschlaggebend für seine Berufswahl war, ist schwer zu sagen. Aber er begann diese für ihn neue Tätigkeit mit großem Interesse und Enthusiasmus. 


Graf von Bothmer hatte als Pädagoge die schwierige Aufgabe, die Leibesübungen nicht nur zu einem Training des Körpers und der Muskeln zu machen, sondern sie zu beleben und das ganze Wesen des Menschen einzubeziehen. Und das gelang ihm, indem er die körperliche Ertüchtigung auf die Ebene der Kunst gehoben hat. 


Die Bothmer Gymnastik beruht sie auf einem geisteswissenschaftlichen, anthroposophischen Menschenbild. Der Mensch ist nicht nur ein sichtbarer Körper, sondern auch eine lebendige Seele und ein Geist. Einerseits ist der physische Körper des Menschen, wie jeder andere Körper auch, äußeren räumlichen Kräften wie der Schwerkraft ausgesetzt, auf der anderen Seite stellt sich das unabhängige innere Wesen des Menschen diesen Kräften entgegen, es lenkt und entwickelt den Körper in direkter Wechselwirkung mit diesen Kräften. Schwere wird von den Menschen als Müdigkeit und Schwäche empfunden, während Leichtigkeit als ein Ausdruck von Lebensenergie, Hochstimmung und Euphorie wahrgenommen wird. Räumliche Richtungen werden von den Menschen unbewusst als moralische Qualitäten erlebt. 


Nachdem von Bothmer die räumliche Ausrichtung als moralische Eigenschaft des Menschen erkannt hatte, fand er eine neue Möglichkeit, den Menschen mit dem Raum des Universums zu verbinden. Der grenzenlose Raum wurde für ihn zum Medium der Tätigkeit, zur Leinwand des Künstlers, und der Mensch zum Instrument der Schöpfung, zu seinem Pinsel. Bothmer machte die aufrechte menschliche Gestalt zum Anfangs- und Endpunkt jeder gymnastischen Übung. Dies ist die reinste menschliche Körperhaltung, die ihn von allen anderen Lebewesen der Erde unterscheidet. Es ist der Gleichgewichtszustand der Raumkräfte, der Nullpunkt. Von hier aus kann man sich in die Schwere fallen lassen, sich in die Leichtigkeit strecken, vorwärts auf das gewählte Ziel zugehen oder rückwärts gehen. Aus diesem Zustand der aktiven Ruhe heraus beginnt eine Bewegung in die eine oder andere Richtung; ein Abenteuer der Erprobung räumlicher Kräfte, welches am Ende der Übung wieder zur Ruhe kommen muss. Bewegung ist hier der Übergang von einem Ruhepunkt zu einer Raumrichtung und der Übergang von einer Richtung zu einer anderen, das heißt, der Übergang von einer in räumlichen Dimensionen entfalteten Figur zu einer anderen. Mit ihrer räumlichen Struktur ist die Bothmer Gymnastik von allen Künsten der Architektur am nächsten. Jedoch ist es nicht die Architektur von Stein, Holz oder Beton, sondern die Architektur des bewegten Körpers. Und wenn Architektur auch als gefrorene Musik bezeichnet wird, ist die Gymnastik lebendig gewordene Musik, oder Architektur, die singt. 


Für Waldorfschüler:innen beginnt der Gymnastikunterricht im Alter von neun Jahren. In diesem Alter entwickeln sie die Fähigkeit, sich gedanklich vollständig von der Außenwelt zu trennen. Die Wahrnehmung der Welt durch das Kind bleibt jedoch bildlich und so muss der Unterricht also auch bildlich bleiben. Die Bothmer Übungen für Neun- bis Zehnjährige sehen aus wie Kreistänze, also Reigen, mit einzelnen Bewegungen zu den rhythmischen Texten des Lehrers. Die Bewegung in Richtung des Raums, etwa die vertikale Ausdehnung oder die horizontale Erweiterung, wird zum Beispiel in Form von hohen Säulen und offenen Fenstern ins Bild gebracht. 


Ab dem elften Lebensjahr liegen die Übungen dem ganzen Turnunterricht zugrunde. Für Fünftklässler:innen sind dies rhythmische Sprünge mit wechselnden Richtungen. Es folgen Übungen mit einem ausgeprägt geometrischen Charakter, die dann eine Reihe von Verwandlungen und Metamorphosen durchlaufen. Die Übungen wandeln sich mit der Zeit von einfach zu komplex. 


In der sechsten Klasse wird für die Übungen ein Gymnastikstab verwendet. Die Arbeit mit dem Stab hilft, die geometrischen Formen und Positionen des eigenen Körpers im Raum besser zu spüren, die Grenzen des eigenen Körpers und des persönlichen Raums wahrzunehmen. 


Die Beziehung zwischen dem Menschen und der Schwerkraft tritt im Alter von 14 Jahren in den Vordergrund, wenn der Körper größer und schwerer wird. Für Jugendliche ist es manchmal sehr schwierig, mit ihren plötzlich gewachsenen Gliedmaßen zurechtzukommen und ihren plötzlich schweren Körper aufrecht zu halten. Man könnte sagen: Ein Mensch fällt in die Schwerkraft. Deshalb wird das Hauptmotiv beim Turnen Fallen und Überwinden. Die Übungen sind so aufgebaut, dass der Fall des Körpers oder der Gliedmaßen genutzt wird, um eine Möglichkeit zu finden, sich nicht völlig der Schwerkraft zu unterwerfen und die Aufrechte neu zu erringen. 


Ab dem 15. Lebensjahr beginnt eine allmähliche Befreiung von der Schwerkraft und eine bewusstere Beherrschung des eigenen Körpers. Die den Schüler:innen angebotenen Übungen unterstützen diese Prozesse. Die Vorwärtsbewegung wird besonders wichtig. 

Im Alter von 16 Jahren wird diese Vorwärtsbewegung zu einer akzentuierten Bewegung auf das Ziel hin. Zugleich zeigt sich in den Übungen ein bewussterer Umgang mit räumlichen Dimensionen. Die Namen der Übungen für dieses Alter sprechen eine deutliche Sprache: Speer, Bewegung nach dem Ziel, Wachsende Höhe, Wachsende Weite


Bei den Übungen für 16- bis 17-Jährige geht es um einen zunehmend freien Umgang mit dem Körper und den Raumeskräften. Die Bewegungen bilden Linien und Formen im Raum und werden vom Individuum geschaffen. Dies ist bereits eine voll bewusste Konstruktion komplexer räumlicher Formen, eine bewusste Interaktion des Menschen mit den räumlichen Kräften. Während der Mensch das räumliche Bild aufbaut und seinen Körper darin integriert, findet die entgegengesetzte Einwirkung der räumlichen Kräfte auf den Menschen statt, wodurch sich sein Körper in die Richtung der Kräfte ausbreitet und mit ihnen in Zusammenspiel kommt. 


Die Bothmer Gymnastik ist fester Bestandteil des Turnunterrichtes der Waldorfschulen, hat aber auch eine breite Anwendung in der Therapie erfahren. Und doch war und ist es eine ursprüngliche Kunst, eine Kunst, die für alle zugänglich ist – für Erwachsene und Kinder gleichermaßen. 


Im September 2025 beginnt an der Hofschule Wendisch Evern nahe Lüneburg eine neue Ausbildung in der Bothmer Gymnastik. An acht Wochenenden und in zwei Intensivwochen wird das Grundjahr der vierjährigen Ausbildung angelegt.
Beginn: September 2025. Infotag: 1. Februar 2025


Kontakt: diana.stegmann@posteo.de, 05861-98 62 339, www.bothmer-movement.de 

 

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