In Bewegung

Coming-out: Erfahrungen einer Waldorf-Klassenlehrerin

Zum ersten Mal übernachtete meine Freundin bei mir und wir beide, damals gerade um die 17 Jahre alt und frisch verliebt, lagen noch aneinander gekuschelt in meinem Bett, als meine Mutter unerwartet ins Zimmer stürmte. Es folgte eine aufgeheizte Diskussion in der Küche. Meine Mutter schimpfte wie ein Rohrspatz, mein Vater schwieg – was auch nicht gerade ein gutes Zeichen war. Wortfetzen wie »unnormal«, »lesbische Spinnerei« oder »Phase« sind mir davon noch in Erinnerung geblieben. Noch ehe ich mir über meine eigenen Gefühle Klarheit verschaffen konnte, denn alles war noch so neu und unglaublich aufregend, wurden mir diese Worte an den Kopf geknallt. Und immer wieder tauchte ein Satz auf, den ich auch später häufig zu hören bekam: »Du weißt doch noch gar nicht, was richtige Liebe ist!«

Richtige Liebe – falsche Liebe?

Wie kann das, was mich selbst zu- tiefst glücklich macht, bei anderen als abnormal, als widerlich oder falsch gelten? Was ist falsch daran, sich in einen Menschen des gleichen Geschlechts zu verlieben?

Ich wusste schon lange, dass ich mich zu Mädchen hingezogen fühlte und war von diesen Gefühlen einerseits verunsichert, andererseits auch angezogen. Meiner besten Freundin vertraute ich mich nach einigem Hin und Her an und bekam bei all den verwirrenden Gedanken und Gefühlen viel Unterstützung und Zuspruch von ihr. Damals gab es auch immer wieder Jungs, die mich interessierten. Doch im Nachhinein betrachtet fühlte sich für mich die körperliche Nähe eines Jungen immer irgendwie ungut, man könnte fast sagen »falsch« an. Erst als ich das erste Mal ein Mädchen küsste, ging in mir ein riesiges Feuerwerk los. Es war nicht einfach nur ein Kuss, sondern eine Offenbarung. Hier fühlte ich mich auf Anhieb absolut »richtig«! Trotzdem löste der Kuss auch ein großes Gefühlschaos in mir aus: »Bin ich wirklich lesbisch? Fühlt die Geküsste ebenso wie ich oder ist es für sie nur ein Experiment?« Wir gingen beide in die gleiche Klasse und hatten einen gemeinsamen Freundeskreis. Obwohl wir uns täglich begegneten, vergingen Tage, ja Wochen, ohne dass wir das Geschehene ansprachen. Zwischen uns herrschte eine sonderbare Stimmung, in der viel Unausgesprochenes lag. Erst einige Wochen später, bei der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes, sollte ich auf meine Fragen endlich eine Antwort erhalten. Erneut kamen wir uns an diesem Abend näher und küssten uns endlich wieder. Wir beide atmeten erleichtert auf: Es war also doch keine einmalige Sache zwischen uns! Nun konnten wir uns auch viel gelöster über die Fragen und Gefühle der vergangenen Wochen unterhalten und dadurch mehr Klarheit in unsere Beziehung bringen. Gerade als wir anfingen, uns als Pärchen zu definieren und uns damit wohler zu fühlen, brachte der Aufruhr meiner Eltern die sich eben erst aufbauenden Grundmauern unserer Beziehung heftig ins Wanken.

An jenem Morgen bewahrheiteten sich meine Befürchtungen: die aufbrausende Reaktion meiner Mutter, das unerträgliche Schweigen meines Vaters. Doch anders als erwartet, gab es vor allem ein Gefühl, das alle anderen überwog: Erleichterung! Ich war einfach nur froh, dass nun endlich die Wahrheit ans Licht kam. Zugleich fühlte ich mich an der Seite meiner Freundin, meiner Geschwister und Freunde auch stark genug, gegen alle aufkommenden Widerstände anzukämpfen. Ich wollte mich nicht verstecken müssen, das wurde mir mit einem Mal bewusst. Viele Jahre später, als ich mich das erste Mal vor meinen Schüler:innen outete, spürte ich ebenfalls Erleichterung, aber auch Stolz und Verbundenheit mit allen, die ebenfalls den Weg eines Coming-outs einschlagen müssen.

Nach dem großen Krach mit meinen Eltern kehrte erst einmal Ruhe ein, auch wenn ich ständig die missbilligenden (oder waren es besorgte?) Blicke meiner Eltern auf mir spürte. Deshalb sprach ich mit ihnen vorerst nicht mehr über meine Gefühle und die Liebe – aber das machen die meisten Teenager in der Regel sowieso nicht gerne.

Anders war das in meinem engeren Freundes- und Bekanntenkreis. Ich wusste, dass ich mich hier nicht vor einem Coming-out zu fürchten brauchte. Aufgeschlossene, junge Menschen, die sich sozial oder politisch engagierten, sich für Musik, Kunst und Kultur interessierten, gehörten zu meinen engsten Vertrauten. Dadurch warf mich der Konflikt mit meinen Eltern zum Glück nicht aus der Bahn, sondern ließ mich darauf hoffen, dass sie sich schon irgendwann beruhigen würden. Immerhin waren sie ja meine Eltern und liebten mich, das spürte ich trotz allem. Es brauchte noch einige Jahre und auch viel Geduld; aber je mehr ich meinen Eltern zeigen konnte, dass ich durchaus wusste, was für mich die »richtige« Form von Liebe ist und nicht nur in einer »Phase« steckte, desto mehr entspannte sich unsere Situation. Schließlich lernte ich meine Frau kennen, mit der ich nun schon seit Jahren verheiratet bin und sogar eine Regenbogen-Familie mit zwei Kindern gegründet habe. Heute ist es für meine Eltern kein Problem mehr, eine lesbische Tochter zu haben, die sich mit ihrer sexuellen Orientierung absolut »richtig« fühlt. Von den Dozent:innen in meiner Lehrer:innenausbildung und späteren Kollegen:innen an der Schule wurde ich von Anfang an mit offenen Armen und Herzen aufgenommen. Ein freundliches, neugieriges Interesse an meiner Person begegnete mir sowohl bei den jüngeren als auch älteren Mitgliedern des Kollegiums. Es gab keinerlei verstaubten Ansichten oder Vorurteile gegenüber meiner sexuellen Orientierung.

Als ich mein Lehrer:innenseminar an der Nürnberger Waldorfschule absolviert hatte und sogleich in einer zweiten Klasse als Klassenlehrerin eingesetzt wurde, ahnte ich noch nicht, was mich erwartete. Eine Klasse zu leiten, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, das war mir bewusst. Aber ich hätte nicht gedacht, dass mein eigenes Coming-out für die Entwicklung meiner Klasse so entscheidend sein würde. Lange Zeit hielt ich mein Privatleben komplett aus dem Unterrichtsgeschehen heraus. Meine Schüler:innen wussten nicht, dass ich eine Frau hatte und unsere Tochter, von der ich zumindest ab und an erzählte, bei zwei Mamas aufwuchs. Auch den Eltern erzählte ich zunächst nichts. Mit dem Rubikon veränderte sich die Stimmung meiner Schüler:innen: Die Neugierde der Kinder für das Leben ihrer Klassenlehrerin wuchs stetig und das, was für sie zuvor ganz selbstverständlich und unwichtig erschien, wurde plötzlich hinterfragt: »Wie heißt eigentlich dein Mann? Bist du verheiratet? War dein Mann auch bei dem Ausflug dabei?« Zunächst versuchte ich, den Fragen geschickt auszuweichen und die Klasse mit meinen Antworten halbwegs zufrieden zu stellen. Es schien mir noch nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, die Kinder über meine Homosexualität aufzuklären, denn dafür kannten wir einander noch nicht lange und genug. Den Status der »geliebten Autorität« wollte ich zunächst noch erreicht haben. Doch auch hier kam alles wieder anders als erwartet: An einem Morgen platzte ein besonders aufmerksamer Schüler mitten im Unterricht plötzlich heraus: »Ach, Frau Eickhoff, ich weiß übrigens, dass du keinen Mann hast, sondern eine Frau. Du bist lesbisch!« Glücklicherweise hatte ich mich innerlich schon auf diesen Moment vorbereitet, legte alle Pläne des Unterrichtstages zur Seite und führte mit meinen Kindern ein langes und inniges Gespräch über Liebe und verschiedene Familienmodelle. Meine Sorge, die Kinder mit Themen zu konfrontieren, die sie noch nicht durchdringen konnten, stellte sich als überflüssig heraus, denn für die Schüler:innen war es absolut verständlich, dass man auch einen Menschen des gleichen Geschlechts lieben und ein Kind auch bei zwei Müttern oder Vätern glücklich aufwachsen könne. Am Ende des Tages stellten die Kinder fest: »Es ist egal, ob man einen Jungen oder ein Mädchen liebt. Es ist wichtig, dass man sich dabei richtig fühlt. In einer Familie ist es außerdem wichtig, dass alle Familienmitglieder glücklich sind und sich liebhaben.«

Dieses Coming-out vor meiner Klasse und das nachfolgende Gespräch gehörten für mich zu den eindrucksvollsten und herzerwärmendsten Momenten meines bisherigen Lehrerinnendaseins. Erneut fühlte ich eine große Erleichterung, denn nun musste ich den Schüler:innen keine ausweichenden Antworten mehr geben. Die Kinder zeigten Verständnis und uneingeschränkte Akzeptanz für meine Lebenssituation. Fortan gingen wir offen mit dem Thema um, auch in der Elternschaft, zumal bald darauf die Geburt unserer zweiten Tochter bevorstand und nun doch einige Aufklärungsarbeit geleistet werden musste.

An unserer Schule war es damals noch üblich, externe Beratungsstellen wie den Verein pro familia für den Sexualkundeunterricht einzuladen. Erst im Nachhinein habe ich erkannt, dass eine Beziehungskunde-Epoche im internen Klassenverband für uns vermutlich geeigneter gewesen wäre, da erst weit nach dem Termin mit pro familia in der Schülerschaft Fragen und Themen aufkamen, die uns noch sehr beschäftigten.

Schließlich suchten manche Schüler:innen bei mir Rat, wenn das eigene Gefühlsleben bei ihnen gerade verrückt spielte. Ein Junge erzählte mir von seiner Bisexualität und bat mich um Ratschläge für das Coming-out vor seinen Eltern. Eingeleitet mit den Worten »Frau Eickhoff, ich fühle irgendwie anders!« – war das Gespräch für mich ein enormer Vertrauensbeweis und auch ein deutliches Zeichen, dass meine eigene Offenheit ein Kind ermutigte, sich während seines inneren Coming-outs für die Gefühle zu öffnen, die für andere Jugendliche (zunächst) ein Tabuthema sind. Ein weiterer Schüler fand seit der sechsten Jahrgangsstufe Gefallen daran, seine weibliche Attitüde zu betonen und sie im Unterrichtsalltag darzustellen.

Da wurde mir bewusst, wie wichtig mein eigenes Coming-out für die Heranwachsenden gewesen war. Bevor die jungen Leute Vorurteile von außen annahmen, hatten sie bereits eigene Erfahrungen mit Themen gemacht, die in anderen Klassen unausgesprochen blieben. Die Begriffe »schwul« oder »Schwuchtel« wurden von meinen Schüler:innen beispielsweise niemals als Schimpfwörter gebraucht.

In meinem zweiten Durchgang habe ich mich bei den Eltern an unserem ersten Elternabend folgendermaßen vorgestellt: »Mein Name ist Irene Eickhoff, seit 2014 bin ich als Klassenlehrerin und Musiklehrerin an unserer Schule tätig […]. Ich habe eine Frau und zwei Töchter, die 4 und 9 Jahre alt sind.« Diesmal habe ich nicht lange herumgefackelt, sondern gleich bei unserem ersten Treffen Nägel mit Köpfen gemacht. Es gab keine befremdeten oder besorgten Blicke! Diesmal habe ich meine familiäre Situation einfach sanft in den Unterrichtsalltag einfließen lassen, hier ein kurzer Bericht vom Wochenende, dort eine kleine Anekdote über meine Erlebnisse, ohne bisher ein offizielles Coming-out in die Wege geleitet zu haben. Ist es überhaupt notwendig, wenn ich ganz selbstverständlich und ohne großes Aufheben aus meinem Leben berichte? Das versuche ich momentan noch herauszufinden, aber die Zeichen stehen gut.

Irene Eickhoff lebt mir ihrer Frau und den beiden Kindern in Nürnberg. Nach ihrem Musikpädagogikstudium mit Hauptfach Blockflöte besuchte sie das Lehrerseminar an der Rudolf Steiner-Schule Nürnberg. Seit 2014 ist sie als Klassen- und Musiklehrerin dort tätig und leitet ein Blockflötenseminar.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.