Ausgabe 01-02/24

Da draußen auf der Suche

Christian Boettger

Erziehungskunst | Liebe Julia, liebe Lisa, was waren eure Motive für diese Reise?

Julia Hermes | Besonders wichtig war uns, die Reise um die Welt ohne Flugzeug zurückzulegen. Frühere wunderbare Tramp-Erfahrungen hatten uns erleben lassen, wie ergreifend auf solchen Reisen die direkten Kontakte zu den Menschen und den Ländern waren. Wir hatten schon erlebt, wie tief diese Erfahrungen dann werden und genau dazu wollen wir auch mit dem Buch inspirieren. Ganz neu war das Segelboot-Trampen über den Atlantik.

Lisa Hermes | Das zweite zentrale Motiv war die Suche nach Lebensgemeinschaften, die in sozialen und ökologischen Feldern zukünftige und verantwortungsbewusste Lebensformen ausprobieren und so leben, wie wir es gerne würden. Es geht darum, so zu leben, dass es uns und der Natur gut geht. Auch in diesem Feld hatten wir schon in unserer Kindheit und Jugendzeit wichtige Erfahrungen gesammelt. Insbesondere die viele Zeit, die wir als Kinder in den Wäldern der Eifel verbracht haben, die damalige «Dorf-Punk»-Jugendgruppe, die Autoritäten hinterfragte, die Umweltgruppe gegen den Müll, und nicht zuletzt die Erfahrungen als junge Erwachsene in einem Flüchtlingscamp in Griechenland. Insgesamt war es eine Mischung zwischen Reiselust und dem damit verbundenen anderen Erleben von Zeit und dem Ziel alternative Lebensformen auf der ganzen Welt intensiv kennen zu lernen, um eine eigene Vision zu entwickeln.

EK | Was war für Euch im Rückblick heute die beeindruckendste Gemeinschaft oder das bedeutendste Projekt, das ihr kennenlernen konntet?

JH | Das war die basisdemokratisch organisierte Zapatista-Bewegung indigener Widerstandskämpfer:innen in Mexiko. Mich fasziniert dabei, dass auch, wenn der mexikanische Staat zusammenbrechen würde, diese Gemeinschaften weiterexistieren könnten. Hier gibt es keine Autoritäten, sondern ein sich gegenseitig unterstützendes und schützendes Netzwerk, das auf generationsübergreifenden Gemeinschaften beruht. In diesem Land ist es notwendig, dass man sich gegen Überfälle militärischer und paramilitärischer Organisationen schützt. Die Gemeinschaften schaffen es trotz gewalttätigen Bedrohungen, ganzheitlich mit der Natur und der geistigen Welt im Einklang zu leben.

LH | Die Menschen dort schaffen es, die materielle und geistige Welt in Einklang zu bringen. Der Mensch wird in seiner Ganzheitlichkeit erfasst und gewürdigt. Der Einklang war für mich vor allem im Bezug zu Pachamama (die personifizierte Mutter Erde) erlebbar. Für diese Menschen hat alles Natürliche einen Geist und alles ist mit allem verbunden. Damit wird erlebbar, dass wir uns selbst verschmutzen, indem wir die Erde verschmutzen und es uns schlecht geht, wenn es der Erde und der Natur schlecht geht. Konkret haben wir eine tägliche Lebenspraxis mit Pachamama erlebt in Ritualen, Zeremonien sowie an Festtagen. Es wird in einem Dialog mit der Natur gelebt, das war für uns sehr beeindruckend.

JH | Aber wir beschreiben auch die Ohnmachtsgefühle, die uns beschlichen haben. Wir haben miterlebt, welche Zerstörungskräfte in der Ölförderung im Amazonasgebiet, den Staudammprojekten in ganz Südamerika oder in den Monokulturen wirksam sind. Wie schön war es dann, auf Dorfgemeinschaften zu stoßen, die sich nicht von den Versprechungen von Konzernen verführen ließen und wahrhafte Oasen des Lebens aufgebaut haben. Wir wollen uns nicht lähmen lassen, wir haben doch nur das eine Leben, um etwas für die Welt zu bewirken!

LH | Für mich ist da Charles Eisenstein ein Inspirator, der die Geschichte der Trennung des Menschen von seiner Umwelt beschreibt und deutlich macht, wie dieses Projekt der Separation scheitern muss, denn faktisch sei der Mensch ein Teil der Natur und des Kosmos. Wenn wir aber selbst die Geschichte in die Hand nehmen und eine Kultur des «interbeing» leben, können wir als Menschen etwas bewirken. Die Zukunft ist davon abhängig, wie wir heute ein neues Verhältnis zur Natur und damit zu uns finden. Die Hoffnung als Kraft ist für eine Zukunftsgestaltung einfach wichtig.

EK | Uns hat vor allem euer Mut und die unbändige Freude und Liebe am Leben und der Begegnung mit Menschen begeistert. Was glaubt ihr, wo diese herkamen?

LH | Die Liebe und der Mut kamen von unseren Eltern. Wir sind in einem kleinen Dorf direkt am Wald aufgewachsen und wir durften schon als Kinder allein in den Wald gehen, wir durften selbst lernen mit Wetterverhältnissen und der Umgebung zurecht zu kommen. Optimismus und Vertrauen haben uns unsere Eltern gegeben. Als es zum Beispiel Schnee und Eis auf den Straßen bei uns hatte, hat uns mein Vater gezeigt wie man unter diesen Umständen sicher Autofahren kann und uns es auch machen lassen. Mit 15 wollte ich für eine künstlerische Ausbildung in die Stadt und bin alleine nach Köln gezogen, mit der Unterstützung unserer Eltern.

JH | Wir haben natürlich auch viel Glück gehabt. Das Sprichwort: «Wie man in den Wald ruft, so hallt es auch zurück» bestätigt uns das Leben immer wieder. Insbesondere unsere vorherigen Reisen und auch das Trampen haben uns Mut gemacht sowie die Einladungen und vielen lieben Menschen, die wir kennenlernen durften. Warum erzählen wir uns so viele schreckliche Geschichten? Als ich mit 18 auf dem Fahrrad durch Indien fuhr und wunderschöne Erfahrungen machen durfte, gab es keinen, der nicht davor warnte.

LH | Es hieß eigentlich regelmäßig, dass das nächste Land ganz sicher das Schrecklichste sein werde. Wir dürfen uns nicht von Angst lähmen lassen, aber wir müssen uns trotzdem auch die Gefahren bewusst machen. Wenn man, so wie wir es waren, unterwegs ist, bekommt man auch eine Art Intuition für Gefahren, auch darauf gehen wir im Buch ein.

EK | Wie ging es euren Eltern mit eurer Reise? Wie haben sie euch begleitet und unterstützt?

JH | Auf jeder unserer vorherigen Reisen hatten sie uns besucht und auch auf dieser haben wir uns ein paar Mal getroffen wie zum Beispiel in Costa Rica. Durch die Besuche ist immer wieder eine neue Ruhe eingetreten. Unsere Eltern haben durch diese Reisen viele neue Dinge gelernt und wieder neues tieferes Vertrauen geschöpft – sie sind dadurch auch selbst gewachsen. Sie haben sich insgesamt eher als begleitend gesehen und nicht als Beschützer und Beschützerin.

LH | Wenn Eltern die Kinder vor allem beschützen wollen, können Kinder Gefahren nicht richtig einschätzen. Wenn es immer wieder heißt: «Du darfst das Feuer nicht anfassen» und vielleicht auch noch begründet wird, weil es heiß ist, hat das Kind keine Erfahrung gemacht. Es geht darum, das Feuer erfahren zu lernen, klar – ohne selbst in Gefahr zu kommen. Wir müssen uns auch als Eltern um unsere Ängste kümmern. Die Ängste der Eltern sind oft nicht das Beste für die Kinder.

EK | Was können Elternhaus und Schule zur Entwicklung einer besseren Welt beitragen?

JH | An erster Stelle steht für mich, die Kinder zur Selbstverantwortung zu führen. Das Kind sollte den Raum bekommen, sich frei und selbstbestimmt zu entfalten. Weg von Konzepten und Standardisierungen hin zu einer Herzensbeziehung. Dazu müssen Eltern ihre eigenen Interessen oft hintenanstellen und vor allem sich mit ihren eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit auseinandersetzen, damit sie nicht unreflektierte Verhaltensmuster weitergeben.

LH | Mir fällt da sofort Joseph Chilton ein, der das Buch «Magical Child» geschrieben hat. Das würde ich allen Waldorflehrer:innen ans Herz legen. Er beschreibt darin die wichtige Bindung zwischen Kindern und Eltern und sieht das phantasievolle Spiel als wichtigstes Instrument, damit Kinder Kreativität im Umgang mit der Welt lernen. Heute brauchen wir für Kinder Gemeinschaften, die gleichzeitig auch Erziehungsgemeinschaften für die Erwachsenen sein werden. So wie es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind in seiner Entwicklung zu begleiten, braucht es auch das Dorf für die Eltern. Und das war im Rückblick auch eines der großen Ergebnisse unserer Reise.

EK | Vielen Dank für das Interview.

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