Ausgabe 05/24

Da krachen Lebenswelten aufeinander

Heidi Käfer
Heidi Käfer

In Deutschland gibt es vier Fachoberschulen mit anthroposophischer Ausrichtung: Die Hiberniaschule Herne, die Freie Waldorfschule Kassel, die Freie Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg und die Emil Molt Akademie. Letztere bietet vier Ausbildungsgänge an: Heilerziehungspädagogik, kaufmännische Assistenz, soziale Assistenz und die Allgemeine Fachhochschulreife. Dementsprechend finden sich Menschen mit unterschiedlichen Bildungspfaden, Interessen und Biografien an der Schule wieder. Staatliche Oberstufenzentren sortieren nach Leistung innerhalb des ersten Halbjahres extrem aus, der Leistungsdruck ist dort für Schüler:innen also enorm. Zwar herrscht an der Emil Molt Akademie auch ein gewisses Maß an Druck, schließlich werden dort staatlich geprüfte Ausbildungsgänge absolviert. Mit rund 170 Schüler:innen entsteht jedoch Familiarität in einem engen Betreuungsverhältnis. Die Schule sei «kein Apparat, wo man seine Stunde absitzt und dann wieder schnellstmöglich nach Hause geht», so Nicolas Michél Müller, Lehrer für Politik, Wirtschaft und Geschichte in allen Ausbildungsgängen und Teil der Schulleitung. Diejenigen mit nicht-geradlinigen Biografien fänden dort so eine zweite Chance und einen Ort, an dem sie «anders aufblühen». Auch das Lehrer:innenkollegium ist alles andere als gewöhnlich: Die EMA braucht Expert:innen für Pflege, EDV, Rechtswesen, Wirtschaft und Sozialpädagogik sowie IT. Deren Rolle an der Akademie verlangt über das Fachwissen hinaus nicht nur pädagogische Kompetenzen, sondern ist häufig der von Sozialarbeiter:innen ähnlich.

Ein stetiges und bisher nicht zu lösendes Problem sind die Kosten. Das Bildungsministerium bezuschusst Berliner Privatschulen zu 93 Prozent. Die restlichen sieben Prozent der Kosten müssen also über das Schulgeld akquiriert werden. So liegt der monatliche Mindestkostenbeitrag pro Schüler:in immer noch bei 180 Euro – ein Betrag, der mehr als der Hälfte der Schüler:innen der EMA Sorgen bereitet. Das sind entweder Selbstverdiener:innen oder Beziehende von Schülerbafög. Währenddessen steigen bekanntermaßen die Lebenshaltungskosten seit ein paar Jahren stark durch den Ukrainekrieg, Inflation und Corona.

Nicht nur treffen an der EMA junge Menschen aus gut betuchten Waldorfelternhäusern in Zehlendorf auf ehemalige Staatsschüler:innen, die sich zu sechst eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Wedding teilen. Die Schulgemeinschaft besteht aus Menschen mit Migrationsvorder- und hintergrund, Geflüchteten, Kindern von Eltern der dritten Generation türkischstämmiger Berliner:innen, Juden und Jüdinnen, Muslimen und Muslima, christlich geprägten Schüler:innen. Obwohl das eine Mischung ist, die auch das Potential für große Konflikte hat, wünscht sich Nicolas Michél Müller, dass alle Waldorfschulen so wären wie die Emil Molt Akademie. Um eine Heile-Welt-Bubble handele es sich hier nicht: «Die sozialen Konflikte im Weltgeschehen sind bei uns vor Ort stark spürbar.» So entstand nach dem 7. Oktober 2023 helle Aufregung in seiner Klasse, in der eine Schülerin aus Gaza und eine jüdische Schülerin saßen. «Es gibt einfach Konflikte, die komplex und auch überfordernd sind. Da muss man sich fortbilden, trauma-informiert sein und ein starkes Kollegium haben.» Intern gäbe es für solche Themen Fortbildungen, zuletzt gab es eine über psychische Erkrankungen: «Seit Corona sind psychische Erkrankungen exorbitant unter unseren Schüler:innen gestiegen», stellt Müller fest. Zwar seien die Strategien und Maßnahmen im Umgang mit den sozialen Herausforderungen an der Schule ausbaufähig, «aber wir sind auch ein spezielles Kollegium», so Müller. Viele bringen aus ihrer persönlichen oder beruflichen Biografie Erfahrungen mit, die dabei helfen, mit Menschen aus so verschiedenen Milieus zusammen zu arbeiten. Dennoch wünscht sich Müller fest integrierte Fortbildungen und vor allem Sozialarbeiter:innen. Die Lage werde immer extremer.

Gegründet hat sich die Emil Molt Akademie aus dem Impuls heraus, dass diejenigen, die das Abitur an der Waldorfschule nicht machen können oder wollen, die Möglichkeit haben, den nächsthöheren Abschluss zu machen, ohne dafür auf eine staatliche Schule gehen zu müssen. Die Allgemeine Fachhochschulreife ist dieser nächsthöhere Abschluss, der den Absolvent:innen auch die Möglichkeit gibt, zu studieren. In seiner jetzigen Klasse hat Müller 18 Schüler:innen, die große Mehrheit davon sind Abgänger:innen von allgemeinbildenden Waldorschulen, die anderen kommen von einer Regelschule. «Da sieht man die Konditionierung auf den Stoff sehr stark. Zwar ist das sehr verallgemeinernd, aber die Waldorfschüler:innen sind schon spritziger, fragen viel, sind sehr sozial, interaktiv.» Bei den Staatsschüler:innen, aber auch bei Waldorfschüler:innen beobachtet er dabei, wie diese Konditionierungen mit der Zeit aufgebrochen werden. «Ich habe das Gefühl, etliche von denen können hier das erste Mal aufatmen.»

Chancengleichheit wird im Unterricht nicht als explizites Thema besprochen. Müllers Meinung nach drückt sich diese im Miteinander, der Ausrichtung der Schule und des Unterrichts aus. Kürzlich haben sie eine genderneutrale Toilette eingeführt. Dennoch gäbe es eine Damentoilette, vor allem für Muslima. Unabhängig von Geschlecht oder Orientierung wird darauf geachtet, dass die Bedürfnisse aller wahr- und ernstgenommen werden. Im Fach Politik, Wirtschaft und Geschichte wird aufgezeigt, wie soziale Ungleichheit entsteht durch eine Wirtschaftsweise, die sozial differenziert, religiös Ausformungen findet oder auch in Fragen mündet wie «habe ich die Möglichkeiten, mein Kind an die Waldorfschule zu schicken?», sprich: am Individuum und seiner Entscheidungsfreiheit sichtbar wird. Die Auszubildenden der kaufmännischen Assistenz sollen einerseits Bilanzen verstehen und sich mit Konzepten aus der freien Marktwirtschaft auskennen, gleichzeitig werden aber alternative Wirtschaftsweisen behandelt nach dem Grundprinzip «Wirtschaft verstehen, sozial handeln». Die Emil Molt Akademie orientiert sich dabei an der Sozialen Dreigliederung. Ausdruck fand dieses Verständnis in der 2015 gegründeten ökologisch und sozial handelnden Schüler:innenfirma Berlin Bees, die mit ihren Bienenvölkern Honigprodukte herstellt und vertreibt. Das gemeinsame Tun ist in der Schule das wichtigste, wenn es darum geht, Verbindungen zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Lagen zu schaffen. Jenseits von nationaler, kultureller und sozialer Herkunft schafft man gemeinsames, lernt «das andere» kennen und realisiert: wir sind anders und doch gleich. Müller ist überzeugt: «Da wird ein Bewusstsein geschaffen, auch für die Generationen danach.»

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