Ausgabe 09/23

Das Bewegte Klassenzimmer

Angelika Wiehl
Wolfgang M. Auer

Für den bewegten Unterricht bedarf es eines radikalen Umdenkens: von der disziplinierenden Sitzordnung zur variablen Anordnung der Bänke oder Klapptische, vom zur Schultafel ausgerichteten Sitzen der Kinder zum Lernen in Sozialformen, im oder außerhalb des Kreises mit und ohne Bänke oder Tischen, in der zur Schultafel orientierten Schreibstube, in Gruppentischen oder an einer großen Tischfläche für gemeinschaftliches Arbeiten und Frühstücken.
Bewegung als Urprinzip allen Lernens verlangt nicht nur eine flexible Klassenmöblierung, sondern vor allem sich für Bewegung äußerer und innerer Art begeisternde Lehrkräfte. Ein gelingender Unterricht im Bewegten Klassenzimmer der Unterstufe startet mit einem Bewegungsparcours, integriert rhythmisierende Bewegungsübungen oder kann als Bewegungsepoche mit Sportgeräten auch in der Sporthalle gestaltet werden. Wer Schulkinder in und mit Bewegung erlebt, bemerkt ihr feines soziales Einfühlungsvermögen, denn im Kreis und freien Bewegen nehmen sie einander – einschließlich der sich auch bewegenden Lehrkräfte – in ganzer Erscheinung wahr, und sind nicht von Schultischen verdeckt.
Entstanden ist das Bewegte Klassenzimmer, um den Kindern am Schulanfang die Möglichkeit zu geben, Fähigkeiten zu entwickeln, die sie für das Lernen in der Schule brauchen. Zu diesen Basisfähigkeiten gehören Aufmerksamkeit, Ruhe, Impulskontrolle, Selbstständigkeit, Ausdauer, Zeitgefühl, Sozialfähigkeit – die Grundlagen für lebenslanges und nachhaltiges Lernen.

Im eigenen Leib

Aufmerksam kann ein Mensch sein, wenn er bei sich selbst angekommen, im eigenen Leib beheimatet ist. Das Leibgefühl entsteht durch elementare Tasterfahrungen einerseits an der Beschaffenheit der Gegenstände, andererseits durch das körperliche Berührtwerden. Kinder, die ihren Körper und die Grenze zwischen innen und außen häufig positiv erfahren haben, empfinden ihren Körper als zuhause, fühlen sich darin wohl und sicher. Ihnen fällt es leicht, dem Unterricht konzentriert zuzuhören.

Im Gleichgewicht

Eine Zeit in Ruhe aushalten zu können, ist eine Voraussetzung für Lernen und Zusammenarbeiten in der Schule. Die Unruhe vieler Kinder mag verschiedene Ursachen haben. Das Gleichgewichts- oder Vestibularsystem spielt eine zentrale Rolle, denn es registriert Bewegungen im Raum und unser Verhältnis zur Schwerkraft. Um ein Bild der Lage des Körpers zu bekommen, integriert es die Wahrnehmungen des Tast- und Bewegungssinnes in jedem Augenblick von selbst. Dadurch können wir uns aufrecht halten und sicher bewegen, bewusst den Alltag erleben, ein räumliches Vorstellungsvermögen entwickeln – eine Grundlage für Schreiben, Lesen und Rechnen. Ist das Gleichgewichtssystem nicht ausgebildet, hat das Kind Schwierigkeiten, zu kooperieren, muss es sich ständig bewegen. Fordert man es auf, sich hinzusetzen, kommt Stress auf. Diese Kinder brauchen eine leibliche Balance, die sie durch Schaukeln, Balancieren, Springen, Klettern, vor allem auf unebenem Untergrund, entwickeln.

Sichere Bindungen

Selbstständigkeit bedarf der Fähigkeit zur sicheren Bindung. Unsicher gebundene Kinder sind nicht in der Lage, den sicheren Hafen der Bindungsperson zu verlassen, um die Welt zu erkunden, sich in der Schule auf neue Situationen und Personen einzulassen. Daher gehört zum Bewegten Klassenzimmer, dass die Klassenlehrkraft den ganzen Vormittag die Klasse begleitet, damit die Kinder zur Stärkung ihrer Selbstständigkeit Bindungserfahrungen machen können.

Rhythmische Prozesse

Die Klassenlehrkraft erlebt mit den Kindern den täglich gleichen Stundenplan, den Wochenrhythmus und durch die Gestaltung der Jahresfeste den Jahresrhythmus. Dabei hat jede Unterrichtsstunde ihre rhythmische Gestalt durch den Wechsel von bewegten, ruhigen, aufnehmenden und produktiven Lernphasen. Morgens blickt die Klassenlehrkraft mit den Kindern auf die Aufgaben und Fachstunden, am Mittag werden die wichtigen Ereignisse des Schultags erinnert und die Aufgaben für den nächsten Tag genannt. Durch regelmäßige und rhythmisierte Lerntätigkeiten sowie die Pflege des Vor- und Rückblickens bilden die Kinder ein Zeitgefühl aus, das es ihnen erleichtert, sich auf wiederholende Übungen einzulassen.

Einander wahrnehmen

Wer die alltäglichen Gespräche im Kreis eines Bewegten Klassenzimmers erlebt, bemerkt die Qualitäten einer sich bildenden Klassengemeinschaft, die den Anliegen eines jeden Kindes und sozialen Aufgaben Anerkennung schenkt. Vor allem in Unterstufenklassen füllt die Kreismitte ein Tisch mit einer Kerze, Blumen oder Klangschale –als Ruhepol in der sonst freien Kreisfläche. Im Morgengespräch werden Erlebnisse vom Vortag ausgetauscht, Übungen gemacht und im Abschlusskreis am Ende des Schultags die Vorkommnisse geklärt sowie einer bildhaften mündlichen Erzählung der Klassenlehrkraft gelauscht. Die Kreisform ermöglicht einerseits den Lehrer:innen und den Kindern, sich gegenseitig besser wahrzunehmen, andererseits auf Nähe und Distanz zu achten – eine für viele Menschen bewusst zu erlernende Qualität.

Basissinne

Die Nachreifung und Schulung der vier Basissinne nach Steiner (Tastsinn, Vitalsinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssystem) bildet die Grundlage für die Integration von Bewegungselementen im Bewegten Klassenzimmer. Jeden Morgen beginnt der Schultag mit einem Parcours aus Bänken, Kissen und anderem Material. Klatsch- und Geschicklichkeitsspiele, soziale Spiele, oder Spiele für einzelne Basissinne und bestimmte Verhaltensweisen, oft für einzelne Kinder erdacht, werden auch in der Unterrichtszeit mit allen oder abwechselnd mit der Hälfte der Klasse durchgeführt.

Soziales und kreatives Lernen

Sozial- und Lernformen üben die Kinder ab der ersten Klasse, indem sie Bänke und verformbare Kissen jeweils unterschiedlich anordnen. Jedes Kind übernimmt seine Aufgabe oder Rolle. Die meiste Zeit des Unterrichts findet in den ersten Schuljahren im Kreis statt. Die frontale Reihenformation wird nur dann benutzt, wenn der Blick zur Schultafel nötig ist.

Ausblick

Wenigen Waldorfschulen gelingt es bisher, dieses Konzept als Grundprinzip variabler sozialer Lernformen auch in höheren Klassen zu realisieren und für das Jugendalter neue Formen des Lernens zu entwickeln. Die Portfoliomethode, Klassenspiele, fächer- und klassenübergreifende, inner- und außerschulische Lernprojekte einzusetzen und vor allem neue und inklusive Lern- und Begegnungsräume zu schaffen – das wäre eine Perspektive.

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