Ausgabe 07/08/25

Das eine gibt es nicht ohne das andere

Heidi Käfer

Matthias Rang ist  Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum in Dornach. Er hat Physik in Freiburg und Berlin studiert. Seine Dissertation schrieb er über komplementäre Spektren an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungen im Bereich der Nanooptik, Farbenlehre und Fluoreszenz-Anregungs-Spektroskopie folgten.


Erziehungskunst | Was an anderen Universitäten vielleicht Institute oder Seminare sind, sind an der Freien Hochschule des Goetheanums in der Schweiz die Sektionen. Eine davon ist die Naturwissenschaftliche Sektion, die Sie mitleiten. Was wird da gemacht?

Matthias Rang | Die Naturwissenschaftliche Sektion ist eine der Sektionen am Goetheanum, in der wir viel forschen, und wir finanzieren uns auch darüber. In anderen Sektionen kann der Schwerpunkt ein anderer sein, zum Beispiel in der Vernetzungsarbeit oder im Bereich von Konferenzen und künstlerischen Veranstaltungen. 

EK | Wozu forschen Sie?

MR | Als einer von zwei Sektionsleitenden fehlt mir leider gerade die Zeit, selbst Forschungsprojekte durchzuführen. Ich habe aber lange zu Farbe und Licht geforscht, insbesondere zur Farbenlehre, Optik, der Spektroskopie, und beteilige mich noch an zwei Projekten, die aber vor allem von Kolleginnen und Kollegen bearbeitet werden. 

EK | Und Ihre Kolleg:innen? 

MR | Die arbeiten zum Beispiel im Bereich der Biologie und Mikrobiologie, der Pharmazie und Botanik. Es gibt einen Forscher, der für Weleda zu Heilpflanzen forscht, ein Kollege beschäftigt sich mit Farbstoffen aus der Indigopflanze, als Team arbeiten wir auch an der Wirkung farbigen Lichtes auf Pflanzen und hinzu kommen einige Kooperationsprojekte mit anderen Institutionen. Zusammen veranstalten wir auch Tagungen und Konferenzen am Goetheanum.

EK | Was ist das Anthroposophische an Ihren Themen und Ihrer Forschungsarbeit?

MR | Es gibt keine anthroposophische naturwissenschaftliche Forschung im engeren Sinne, sondern nur naturwissenschaftliche Forschung. Meine Fragestellung kann aber sehr wohl aus der Anthroposophie kommen. Ich kann mich zum Beispiel aus anthroposophischen Gesichtspunkten für so etwas interessieren wie die Wärmehülle der Erde. Wenn ich dann versuche, die Wärmehülle zu identifizieren und zu charakterisieren, mache ich das mit naturwissenschaftlichen Methoden. Und das können auch goetheanistische Methoden sein –  dabei verbinden sich empirische Methodik und ein wesensbezogenes Verständnis der Natur. Die Anthroposophie spielt für uns eine entscheidende Rolle, wenn es um die Überlegungen und Einsichten geht, aus denen die Forschungsfragen entstehen.

EK | Die Geisteswissenschaften, auch Humanities genannt, sind im heutigen Wissenschaftsbetrieb akademische Disziplinen, die sich mit Aspekten der menschlichen Kultur und Gesellschaft befassen. Sie untersuchen zum Beispiel Sprache, Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunst und Religion. Steiner definierte «Geisteswissenschaft» hingegen als methodische Beobachtung und Erforschung der geistigen, übersinnlichen Welt. Dass am Goetheanum auch die Naturwissenschaftliche Sektion angesiedelt ist, liegt das einem gewissen anthroposophischen Erkenntnisinteresse zugrunde? 

MR | Ja, auf jeden Fall. Außerdem hat sich Rudolf Steiner immer für Naturwissenschaften interessiert. Seiner Ausbildung nach war er Naturwissenschaftler und hat dann insbesondere geisteswissenschaftlich – nach seiner Definition – gearbeitet. Das hat er aber nie losgelöst von den Naturwissenschaften getan. Steiner betonte, dass wir eine Welt um uns herum haben. Nicht eine Welt der Naturwissenschaftler:innen und eine der Künstler:innen und eine der spirituellen Esoteriker:innen, sondern dass es eine Welt ist, die durchgängig kennengelernt werden kann und für die es sich lohnt, sich durchgängig zu interessieren. So verstehen wir hier auch unsere Naturwissenschaftliche Sektion. Wir versuchen, den Boden zu bilden für all die anderen Sektionen, die es noch am Goetheanum gibt – wie die Pädagogische Sektion, die Medizinische und so weiter.

EK | In Ihrer Arbeit geht es auch um den Unterricht an Waldorfschulen. Können Sie uns dazu etwas erzählen? 

MR | Wir haben zum Beispiel ein Lehrmittel entwickelt, das von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen vertrieben wurde – eine sogenannte Spiegelspaltblende. Das ist eine Blende, mit der man gleichzeitig das bekannte Lichtspektrum der Sonne und das umgekehrte Spektrum Goe-thes zeigen kann. Die beiden Spektren sind bis dahin immer wie Gegensätze behandelt worden. Mir ging es darum, zu zeigen, dass diese beiden vermeintlich separaten Erscheinungen eigentlich ein Phänomen mit zwei Seiten sind. Das heißt, das eine Spektrum gibt es dann nicht ohne das andere. Das kann man mit dieser Spiegelspaltblende zeigen. 

EK | Stehen Sie auch in Austausch mit Lehrkräften?

MR | Wir machen Arbeitstage für Physiker:innen. Da kommen Lehrer:innen aus Waldorfschulen, auch einige aus anderen Schulen, Hochschullehrer:innen und Forscher:innen, die zusammen an verschiedenen Fragestellungen arbeiten. Beispielsweise hatten wir jetzt gerade das Thema «Wie unterrichten wir?». Eine Möglichkeit, in der Physik etwas zu zeigen, ist mit einem Demonstrationsexperiment. Ich demonstriere also etwas vorne und die Schüler:innen bleiben in der Zuschauer:innenperspektive wie bei einem Kinofilm. Die andere Variante kommt aus dem Goetheanismus und ist eingebunden. In diesem Fall gehen die Schüler:innen in das Experiment hinein. Der 1988 verstorbene Physiker Martin Wagenschein war ein Pionier auf diesem Gebiet. Wenn ich mich mit dem Pendel beschäftige, dann ist es nach Wagenschein weniger lehrreich, sich das Schwingen eines kleinen Pendels auf dem Lehrerpult anzuschauen, als sich selbst auf eine Schaukel zu setzen – dann bin ich Pendel und spüre in der Bewegung die Kräfte, die ich dann auch beschreiben kann. Dann habe ich viel mehr von dem Pendel verstanden, als wenn ich es als Tafelzeichnung habe mit Pfeilen, die Kräfte symbolisieren. Das ist also der Einbezug von mir als Mensch in das Experiment aus eingebundener Perspektive. Auf solchen Tagungen suchen wir dann zum Beispiel nach Experimenten dieser Art. 

EK | Das klingt, als ob Ihre Arbeit auch mit Spaß, Neugierde und Erkenntnislust zu tun hat. Was fasziniert Sie besonders an der Naturwissenschaft?

MR | Es gibt Millionen von Büchern über jedes Thema. In dem Moment, in dem man anfängt, mit einer einzigen Frage zu versuchen, etwas genauer zu verstehen, merkt man, wie viele Türen zu weiteren Fragen aufgehen. Forschende werden nie arbeitslos. Es ist fast ausgeschlossen, dass man mal eine Sache so gründlich erarbeitet hat, dass sie abgeschlossen ist. Das ist etwas Schönes, auch wenn es natürlich bisweilen deprimierend sein kann. (lacht)

EK | Würden Sie sagen, die Naturwissenschaften bekommen an Waldorfschulen die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt? 

MR | Wenn ich mir die Menschen anschaue, die ich bei unseren Tagungen für Physiker:innen kennenlerne, kann ich nur sagen, dass die Schulen, an denen sie unterrichten, einen hervorragenden naturwissenschaftlichen Unterricht haben. Der Unterricht geht weit über das hinaus, was man an anderen Schulen erwarten darf, da sie auch fragen: «Was bedeutet die Naturwissenschaft eigentlich für den heranwachsenden Menschen?»

EK | Man möchte meinen, es liegt auf der Hand, aber aus Ihrer Perspektive: Warum braucht man die MINT-Fächer überhaupt?

MR | Die Gesellschaft braucht sie, um wirtschaftlich up-to-date zu bleiben. Was mir aber wichtig ist: Wir leben in einer Welt, die durch MINT sehr geprägt ist. Und wenn man sich gar nicht auskennt, entstehen Unsicherheiten gegenüber dieser Welt und aus Unsicherheiten können Ängste werden. Von daher glaube ich, wir brauchen diese MINT-Fächer auch, um seelisch gesund zu bleiben. Jedes nicht gegriffene Verhältnis ist ungesund. Selbst ein ablehnendes Verhältnis ist im Vergleich dazu gesund. 

Wenn wir beispielsweise in naturwissenschaftlichem Unterricht Elektrizität behandeln, dann schauen wir, wie das funktioniert. Bei der Elektrizität werden Ursache und Wirkung quasi separiert – ich drücke hier auf den Lichtschalter, die Ursache ist aber ganz woanders, nämlich in einem Kraftwerk. Davon habe ich normalerweise kein Bewusstsein. Wenn ich das bewusst durchdringe, kann ich ein gesünderes Verhältnis dazu entwickeln und bemerke, was es in der Welt bewirkt. Wir betätigen ja im Alltag lauter Dinge, von denen wir nicht verstehen, wie sie funktionieren.

EK | Danke für das Gespräch! 
Das Gespräch führte Heidi Käfer.

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