Ausgabe 05/24

Das Gefühl, das ich in Auschwitz hatte, werde ich niemals vergessen

Roland Schröter-Liederwald

Die Erwähnung der Shoah wird im heutigen Deutschland meistens mit der Aussage «Nie wieder» verknüpft. Inzwischen hat sie sich zu einer Floskel und Plattitüde entwickelt. Mir stellte sich schon immer die Frage: Wer würde denn diesen Satz nicht unterschreiben oder ihm gar öffentlich widersprechen? Hinter der Aussage «Nie wieder» kann man sich versammeln und es sich so richtig gemütlich machen. Warum sage ich das? Weil der industriell durchgeführte Massenmord an Juden, Sinti und Roma, behinderten Menschen, Homosexuellen, sogenannten Asozialen, russischen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter:innen und anderen lediglich der Endpunkt einer Entwicklung war, die schon lange vorher begonnen hatte. Und weil der Antisemitismus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg alles andere als verschwunden ist. Nur ein Detail: Auch schon lange vor dem 7. Oktober 2023 wurde in Deutschland jede Woche ein jüdischer Friedhof geschändet.

Geschichtsunterricht verliert seinen Sinn, wenn er uns nicht Erkenntnisse für das Verständnis der Gegenwart liefern würde. Leider haben wir uns daran gewöhnt, dass jüdische Menschen sich in Deutschland nicht sicher fühlen können und unter Polizeischutz gestellt werden müssen. Spätestens nach dem grausamen Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten vom 7. Oktober 2023 und dem nachfolgenden massenhaften Anstieg antisemitischer Straftaten kann es für uns Deutsche nur heißen: «Nie wieder ist jetzt!»

Vor einigen Jahren richteten wir in der zehnten Klasse eine vierwöchige Geschichtsepoche unter dem Titel NationalsozialismusZweiter Weltkrieg – Holocaust ein. Dazu veranstalteten wir darauf aufbauend zu Beginn der elften Klasse eine fünftägige Studienreise nach Auschwitz und Krakau. Dieses didaktische Paket haben wir bisher dreimal durchgeführt. Die Resonanz bei den Schüler:innen war überwältigend, sodass wir dieses Projekt im Schulprogramm der Oberstufe fest verankert haben.

Zeitgeschichte muss unbedingt mit direktem Bezug zur politischen Gegenwart unterrichtet werden. Die Schüler:innen sollten lernen, dass Judenfeindschaft auf gesellschaftlich tief verwurzelten Stereotypen beruht, unabhängig vom Nationalsozialismus schon lange vorher existierte und bis in unsere Gegenwart und in verschiedenen Formen wirkmächtig ist.

Wir beschäftigten uns im Unterricht intensiv mit der Frage: Was waren das für Männer, die in den sogenannten Einsatzgruppen zu Massenmördern konvertierten?
 

Die Schüler:innen vermuteten, nicht überraschend, tiefgreifende psychische Störungen oder einen Befehlsnotstand, der bei Verweigerung des Mordbefehls den eigenen Tod zur Folge gehabt hätte. Es fiel den Schüler:innen schwer, erkennen zu müssen, dass die Mörder keineswegs Psychomonster waren, sondern ganz normale, unbescholtene Männer, die so gut wie alle freiwillig mordeten und sich keineswegs auf einen Befehlsnotstand berufen konnten. In diesem Zusammenhang diskutierten wir auch die Aussage der Philosophin Hannah Arendt: «Es gibt kein Recht auf Gehorsam.»

Beim Thema Widerstand setzte ich bewusst einen anderen Schwerpunkt als den üblichen. Mir schien es wichtig, die Jugendlichen, die man unter dem Etikett «Edelweißpiraten» zusammenfassen kann, in den Vordergrund zu rücken. Diese freiheitlich gesinnten, losen Jugendgruppen, die von den Nazis und der Hitlerjugend nichts wissen wollten, wurden in der historischen Rezeption jahrzehntelang übersehen oder in der Kontinuität des Nazijargons als Kleinkriminelle diskreditiert. Sie hatten im Westen ihre Hochburgen in Köln und im Ruhrgebiet. Sie wurden von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem in «die Gerechten unter den Völkern» aufgenommen.

Die Schüler:innen sollten zudem erkennen, dass die ganze Katastrophe nicht nur von der kleinen Nazi-Clique um Hitler zu verantworten ist, sondern dass an den Maßnahmen gegen die Juden bis zur Vernichtung mehrere hunderttausend Personen direkt beteiligt waren, dass es neun Millionen NSDAP-Mitglieder gab und dass die meisten Menschen in Nazideutschland die Ausgrenzung und Drangsalierung der jüdischen Mitbürger:innen direkt miterlebten, sie unterstützten, zuschauten, oder gleichgültig wegschauten.

In der mentalen Bewältigung der Vergangenheit setzte sich in der deutschen Öffentlichkeit ein Opfernarrativ durch. Juden waren weiterhin unerwünscht. Ehemalige einflussreiche Nazis kehrten schnell in ihre alten Positionen zurück. Der Schriftsteller Ralf Giordano nannte das «Die zweite Schuld».

Abschließend kam es mir darauf an, die Zeit des Nationalsozialismus als etwas zu erkennen, dass zu uns Deutschen gehört. Einen Schlussstrich darf es nicht geben. Sie ist aber nicht als ewig währender Makel zu verstehen, sondern als Auftrag für die Gegenwart und Zukunft, sich offensiv für die Demokratie einzusetzen, die Menschenrechte zu verteidigen und nicht zuletzt aktiv jüdisches Leben in Deutschland zu fördern und zu schützen.

Das Programm der Reise nach Polen war straff getaktet. Wir achteten darauf, dass die Jugendlichen während des Besuchs der Gedenkstätten emotional nicht überwältigt wurden. Niemand wurde genötigt, alles durchzustehen. Abends veranstalteten wir ausführliche Reflexionsrunden, in denen für Fragen, Gefühle und Schilderungen der Schüler:innen ausgiebig Zeit zur Verfügung stand.

Während unseres Aufenthalts in Polen besichtigten wir das ehemalige Stammlager Ausschwitz und machten dort einen Workshop. Wir besichtigten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und schauten uns die Ausstellung des Auschwitzhäftlings und polnischen Künstlers Marian Kolodziej im Franziskanerkloster in Harmeze an. Wir nahmen Abschied von Auschwitz mit einer von der Klasse gestalteten Gedenkfeier. In der Altstadt Krakaus lernten wir das erzpolnische Krakau und die jüdische Kultur im Stadtteil Kazimierz kennen und trafen uns mit Zeitzeug:innen.

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