Ausgabe 01-02/25

Das Geschenk annehmen

Nele Auschra

In der Ausgabe erfahren wir auch, dass Rudolf Steiner schon immer polarisiert hat, zu Lebzeiten und darüber hinaus. Waldorfschulen sind dies also schon gewohnt, und trotzdem scheuen sich Menschen in manchen Schulgemeinschaften, das von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland eingeläutete 2025 Steiner Festjahr anlässlich seines 100. Todestages zu feiern.
Wir hören davon, dass man keinen Personenkult betreiben wolle. Dass die Kolleg:innen eigentlich nicht genug über ihn wissen. Die Eltern oftmals ebenfalls nicht. Mit den Schüler:innen wird lieber auch nicht über Rudolf Steiner oder die Anthroposophie gesprochen – vor lauter Sorge, man nährte damit das Vorurteil, Waldorfschulen hätten Anthroposophie zum Unterrichtsinhalt.
Doch es geht uns als Waldorfschule doch um etwas völlig anderes als einen Personenkult. Wir arbeiten mit einem Kulturimpuls, der vom Fabrikanten Emil Molt gemeinsam mit Steiner als Begleiter der ersten Lehrkräfte bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat: Wir streben seit nunmehr über 100 Jahren ein Ideal einer Schule an, an der junge Menschen nicht nach dem Willen und für die Anforderungen der jeweiligen Gesellschaftsordnung, sondern nach eigenen Veranlagungen heranwachsen dürfen. Eine Schule, in der die Einzigartigkeit des Kindes mit den ihm eigenen Fähigkeiten und Potentialen ernst genommen wird und in der junge Menschen in 12- bis 13-jährigem Klassenzusammenhalt ihre Individualität in der Gemeinschaft ausbilden können.
Und so arbeiten wir auch 100 Jahre nach seinem Tod, also ohne Steiner, mit Steiner, da die Anthroposophie das Menschenbild begründet, das die Grundlage für dieses Ideal einer Schule ist. Dieses Menschenbild sollte in Kollegien bekannt sein und zeitgenössisch-kritisch rezipiert werden. Unsere Hochschulen und Seminare bieten dazu reichlich Anregung und Expertise. Die Beschäftigung mit der Anthroposophie kann darüber hinaus eine große persönliche Bereicherung darstellen. Und die Beschäftigung mit Steiners philosophischen Schriften eine intellektuelle Herausforderung. Diese sollte man unbedingt unseren Oberstufenschüler:innen zumuten, da hier die Frage der Freiheit und der Erkenntnis-Fähigkeit des Menschen im Mittelpunkt steht.
Wenn wir Sie dazu ermutigen können, das Ideal weiter zu verfolgen und die uns inspirierenden Wurzeln weder zu kappen noch zu glorifizieren – dann können wir alle das Geschenk eines Festjahres annehmen, zusammen mutig in die Öffentlichkeit treten und viele kleine und große Feste feiern.

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