Mit Valentin bin ich seit mehr als 40 Jahren befreundet. Unsere Mütter setzten uns zusammen in die Sandkiste und sind bis heute Freundinnen geblieben. Verliebtheit gab es nie, er war mir so ähnlich, die männliche Version meiner selbst. Ich beneidete ihn um all die Dinge, die er tun konnte und ich nicht, weil er kinderlos war: reisen, filmen, ein Cabriolet fahren, wenig Verantwortung haben.
Karen und ich lernten uns in einer Tangonacht kennen. Uns verband die Leidenschaft für das Tanzen und für unglückliche romantische Lieben. Sie war die Erste, mit der ich offen über Sex sprach (da war ich Anfang 30). Unsere Sammlung an Briefen, Emails und Sprachnachrichten spiegelt zehn Jahre Beziehungsleben wider.
So gäbe es noch einige Freundschaftsgeschichten zu erzählen. Andere Kindheits-, Jugend- und Studiumsfreundschaften sind verloren gegangen, die Gründe sind vielfältig.
Was ist Freundschaft? Wie entsteht sie, wie entwickelt sie sich und was sorgt dafür, dass eine Freundschaft bestehen bleibt oder vergeht? Was unterscheidet freundschaftliche Liebe von anderen Formen der Liebe? Und wo ist Platz dafür im Lehrplan?
Wenn ich mit meinen jugendlichen Schüler:innen eine Vertrautheits- oder Intimitäts-Skala der Beziehungen erarbeiten würde, so stünde an den beiden Polen vermutlich «Bekanntschaft» und «Liebe», dazwischen die Mitschüler:innen, die Sportkumpel (es fehlt das weibliche Pendant dazu), die Freund:innen, die Familie, die Affären, die Hook-Ups und One-Night-Stands, sofern man davon schon gehört hat. Es entstünde vermutlich eine Hierarchisierung der Beziehungsformen. Die romantisch und sexuell exklusive Liebesbeziehung wäre das größte anzustrebende Glück. Die vielfältigen Freundschaften ohne Verliebtheit, ohne Recht auf Exklusivität, ohne Sex gälten eher als selbstverständliche Begleiterscheinung des Lebens.
Und die Eltern meiner Schüler:innen könnten sicher alle von Freundschaften erzählen, die verloren gingen, weil seit der Geburt der Kinder das Kleinfamilienleben und die alltäglichen Herausforderungen in Partnerschaft und Beruf Priorität hatten. In Momenten der Einsamkeit Sehnsucht nach einer vertrauten Person, mit der man reden, kuscheln, feiern oder sich betrinken kann. Und nach einer Trennung der Verlust von Familien-Freundschaften, die sich auf die Seite des:der Ex geschlagen haben.
Die Freundschaft scheint – zumindest in unserer Gesellschaft – einen ambivalenten Stellenwert zu haben. Einerseits missachten wir sie: An Weihnachtstagen, die wir eigentlich lieber mit Freund:innen als der Familie verbringen möchten, und es dann doch nie tun. Wenn der:die Lebensabschnittsgefährt:in beruflich in eine andere Stadt zieht und wir ihm folgen und unser freundschaftliches Umfeld zurücklassen. Das deutsche Grundgesetz schützt und fördert Ehe und Familie, eheähnliche und freundschaftliche Beziehungen werden nur berücksichtigt, wenn finanzielle Interessen des Staates dahinterstehen. Andererseits sind Freundschaften freiheitlich und unabhängig, sie unterliegen keinen Normen, sind uninteressant für Wirtschaft und Politik und entziehen sich so – mit Ausnahme von peergroup-orientierter Werbung in sozialen Netzwerken – der kapitalistisch geprägten Gesellschaft.
In der schulischen Allgemeinbildung kommt das Thema Freundschaft kaum vor. Es gibt präventive Methoden wie Sozialkompetenztrainings und Streitschlichtungsverfahren zur Intervention. Es gibt Vertrauenslehrkräfte und Schüler:innenmediation. Es gibt Sexual- oder Beziehungskunde. Doch es fehlt ein Format, wo Kinder und Jugendliche bewusst lernen, eine Freundschaft aufzubauen und zu pflegen, Neid und Eifersucht in Freundschafts-Trios abzubauen, Empathie zu entwickeln und Verlustangst zu überwinden.
Um der Freundschaft – auch als Voraussetzung für Beziehungs- und Liebesfähigkeit – einen Platz im Stundenplan zu geben, habe ich zu Beginn des zweiten Schuljahres die Klassenstunde eingeführt. Ich verstehe sie als Vorform des Klassenrates, der Teil von demokratischer Bildung der Mittelstufe ist. Hier übe ich mit den Schüler:innen, sich zuzuhören, sich mitzuteilen, Konflikte zu lösen und freundschaftliches Miteinander zu pflegen. Anhand konkreter Ereignisse sprechen wir über den Unterschied von Spielen und Ärgern und das liebevolle Necken. Die Parallelen zu (sexueller) Einvernehmlichkeit, Übergriffigkeit und dem mehrdeutigen Flirt sind nur für Erwachsene sichtbar, die sensibel für Gewaltprävention sind. Es gibt Gefühlssteine, mit deren Hilfe ein Kind sagen kann, was es gerade erfreut oder bedrückt. Es gibt pantomimische Spiele zu Gefühlsausdrücken. Es gibt Bücher, Geschichten oder Elemente des Impro-Theaters über Freundschaft und Emotionalität. Manchmal basteln wir auch einfach ein Freundschafts-Schnappi, in dem empowernde Komplimente stehen. So erhoffe ich mir, den Schüler:innen Methoden beibringen zu können, die sie ermächtigen, ihre Zuneigung, ihre Liebe zu anderen Menschen, zur Natur und zur Welt zu zeigen und sprachlich auszudrücken. Selbstredend werden soziale Kompetenzen in der Schule permanent geübt, bestenfalls gestaltet durch Lehrkräfte. Meist jedoch lernen die Kinder immer noch archaische Formen von Hackordnungen, Machtverhältnissen und geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens für das Überleben auf dem Schulhof.
Auch ich habe schon – reichlich genervt – jugendliche Schüler:innen aus dem Unterricht vor die Tür geschickt mit der Ansage: «Klärt das mal unter Euch und kommt dann wieder rein.» Im Grunde ist es fahrlässig, sie allein zu lassen ohne ihnen beigebracht zu haben, Konflikte konstruktiv zu lösen. Wie oft lag meine Tochter als Teenager weinend im Bett, weil ihre beste Freundin mit einer anderen Freundin verabredet war, sie in der Pause allein herum stand oder die Chatverläufe der sozialen Netzwerke sie emotional zutiefst verstörten.
Glücklicherweise ist der Waldorf-Lehrplan beziehungsweise die altersgemäßen Empfehlungen für den Unterricht mit einigen Geschichten über Freundschaft gespickt. Vielleicht hätten Enkidu und Gilgamesh oder Achill und Patroklos sich als friends with benefits bezeichnet. Oder war es eine romantische, jedoch sexuell keineswegs exklusive Liebe? Die sicher rein seelisch-geistige Freundschaft von Goethe und Schiller könnte mit den Frauenfreundschaften von Caroline von Günderrode oder Rahel Varnhagen verglichen werden. Für die Biografiearbeit in der achten Klasse könnte das Verhältnis von Camille Claudel und Auguste Rodin ausgearbeitet werden oder die fruchtbare Arbeits- und Lebensbeziehung von Eheleuten wie den Curies.
Welche Rolle Freundschaften in Historie, Politik und Philosophie gespielt haben, wäre in der Oberstufe zu erörtern. Die Liste schicksalhafter, zweckmäßiger oder diplomatischer Freundschaften ist sicher lang und die aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Publikationen könnten vielleicht dazu anregen, eine Weltgeschichte der Freundschaft zu schreiben.
Ausgabe 05/25
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