Ausgabe 11/23

Das Patriarchat bestimmt auch das Waldorfsystem

Eva Wörner

Am eindeutigsten offenbart es sich, wenn es darum geht, weibliche Autor:innen für pädagogische Projekte oder weibliche Impulsgeber:innen für bundesweite Veranstaltungen zu finden. Stirnrunzelnd sagen die männlichen Kollegen, dass es kaum weibliche Personen gibt, die dafür bereit wären. Ich will und kann es nicht glauben. Ich ernte leises Schmunzeln oder genervtes Schulterzucken, wenn ich erneut darauf aufmerksam mache, dass ich mir wünsche, dass die weibliche Perspektive und Herangehensweise in den Waldorfschulen ihre angemessene Anerkennung erhalten. Und da bin ich mit meinem Anliegen sogar hinter dem Mond, denn inzwischen redet die ganze Welt von viel mehr als von zwei Geschlechtern. Ich hatte in der Waldorfschule einen Lehrer von der ersten bis zur vierten Klasse – eher eine Seltenheit. In meiner Erinnerung waren Mädchen und Jungen immer gleich – ich kann mich nicht an Rollenzuschreibungen unseres Klassenlehrers erinnern. Richtung Abitur erinnere ich allerdings, dass man als weibliche Schülerin Charme-Punkte bekam und meine Klassenkameraden stattdessen Wissens-Punkte. Dann wollte ich unbedingt Dirigentin werden. «Ausgeschlossen», sagte der damalige Intendant vom Hessischen Rundfunk «das ist eine brutale Welt, nichts für eine Frau».
Als mein ehemaliger Chef die 60 überschritten hatte, begann er im Büro, seine Anwesenheit zu reduzieren. Er hatte ein großes Interesse daran dem Nachwuchs das Feld zu überlassen und Raum für eigene Ideen zu geben. Ich habe ihn dafür sehr bewundert. Wurde er doch tatsächlich zu einem alten weisen Mann, der sich zurücknahm und auf Nachfragen gerne Rat gab.
Das ist in Waldorfkreisen anders. Männliche Kollegen über 60 bestimmen Prozesse und Strukturen, fällen Entscheidungen und geben die Richtung vor, setzen Prioritäten und bestimmen die Themen. Das ist in vielen Schulen und auch in den Ausbildungseinrichtungen so. Patriarchale Strukturen können bedeuten, dass männliche Kollegen im Meeting mehr Redezeit beanspruchen, dass männlichen Kollegen ohne Kenntnis der Person mehr Kompetenz zugetraut wird – Frauen müssen sich in der Regel beweisen – dass administrative Jobs weiblich besetzt werden und schlechter bezahlt sind. Welche Bedingungen braucht es, dass weibliche Personen sich an Forschungsfragen oder Fragen der Zukunft der Waldorfschulen aktiv beteiligen können? In der Politik und freien Wirtschaft wird mit Quote gearbeitet. Wird es uns gelingen, das Weibliche im Prozess auch ohne strukturelle Vorgaben zuzulassen und zu stärken?

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