Warum wählen junge Eltern für ihre Kinder die Waldorfschule? Meistens sind sie keine Anthroposoph:innen, sondern Menschen, die eine Umgebung für ihr Kind suchen, in der es sich gesund entwickeln kann. In meinen Augen bietet die Waldorfschule die attraktive Verbindung von zwei wesentlichen Prinzipien: das Klassenlehrer:innenprinzip und das Prinzip des Entwicklungslehrplans. Die reformpädagogischen Strömungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten unter anderem gemeinsam, dass sie eine «Pädagogik vom Kinde aus» entwickeln wollten. So ist es auch bei der Waldorfpädagogik, die die Unterrichtsinhalte der verschiedenen Klassenstufen an die Entwicklungsphasen der Schüler:innen anpasst.
In der frühen Kindheit und in den ersten Schuljahren unterscheiden Kinder beispielsweise nur unwesentlich zwischen sich selbst und der sie umgebenden Welt. Wird in der ersten Klasse eine Geschichte erzählt, in der es um Hunde und Katzen geht, so wird es so sein, dass ein Teil der Kinder sich früher oder später bellend oder miauend auf allen Vieren durch den Klassenraum bewegt. Die Geschichte ergreift die Kinder im Ganzen, da sie sich als völlig eins mit der Welt erleben. Etwa im Alter zwischen neun und zehn Jahren, wenn die Kinder den sogenannten Rubikon durchleben, hört dieses Sich-Eins-Fühlen auf. Die Kinder unterscheiden zwischen Innen und Außen, zwischen sich selbst und der sie umgebenden Welt. Sie erleben und fühlen, dass sie eine Individualität sind, einzigartig und einzeln. Das führt nicht selten zu großen Verunsicherungen, aber auch zu neuen Fähigkeiten. Die Schätze dieser neuen Fähigkeiten gilt es dann im Unterricht zu heben. Die Kinder sind nun in der Lage, andere Perspektiven einzunehmen. Sie können sich im Erdkundeunterricht ihre Umgebung aus der Vogelperspektive vorstellen.
Wenn man nicht mehr vollkommen im Hier und Jetzt lebt, wird ein Verständnis der Zeit und ihrer Formen möglich. Vergangenheitsformen, Zukunftsformen und deren Ausdrucksweisen in unserer Sprache können bewusst betrachtet werden.
Der Verlust der Einheit mit der Welt findet sich im Bruchrechnen wieder. Hier wird die Zahl Eins nun zerbrochen, wie auch das Einssein mit der Welt zerbrochen ist, und die Kinder finden heraus, dass man sie in unendlich kleine Stücke zerbrechen, aber auch wieder zusammenfügen kann.
Dieser Ansatz setzt sich weiter fort. Die Pubertät ist einer der größten Umbrüche, die ein Mensch in seinem Leben erfährt. Körperlich und seelisch wird alles auf den Kopf gestellt, bereits Gelerntes scheint verloren, Vertrautes steht infrage, geliebte Menschen kommen auf den Prüfstein. Dass das Alte nun überholt ist, impliziert, dass etwas Neues durch Umwälzung und Veränderung erreicht werden muss. Das bedeutet in der Regel Chaos, Zerstörung, Verletzung. Ähnlich den Umbrüchen, die menschheitsgeschichtlich stattgefunden haben. Und entsprechend werden die Themen in der siebten Klasse gewählt: Reformation und der Aufbruch in die Neue Welt. Denn der Mut, das Alte hinter sich zu lassen, erschließt immer auch etwas Neues.
Altersspannen und Altersangemessenheit
Nun gilt es aber, Folgendes zu bedenken: Das Einschulungsalter der Kinder ist deutlich anders als zu Steiners Zeiten. Lag es damals eher bei sieben Jahren, so sind es heute nicht selten Fünfjährige, die mit der Schultüte im Arm durch den Blumenbogen kommen. Andere wurden zurückgestellt, da man den Eindruck hatte, sie sind noch nicht so weit. Eine Klassenlehrkraft hat also häufig eine Gruppe vor sich, die eine Altersspanne von zwei Jahren beinhaltet. Wie kann da entschieden werden, welcher Lehrstoff angemessen ist?
Eine Klassenlehrkraft an Waldorfschulen hat einige Vorteile gegenüber Lehrkräften im staatlichen Schulsystem und die helfen dabei, den richtigen Stoff auszuwählen und die Kinder zu begleiten.
Der Epochenunterricht an Waldorfschulen sorgt dafür, dass die Klassenlehrkraft jeden Morgen die ersten Schulstunden mit den Kindern verbringen kann. Sie kann sie morgens willkommen heißen, sie sieht, wie es ihnen geht, hört, was am Vortag so alles passiert ist, und hat die Zeit, das soziale Miteinander der Schüler:innen zu beobachten, denn der Hauptunterricht dauert bis zu zwei Stunden. In dieser Zeit singen, spielen, lernen, essen, lauschen alle gemeinsam – und das jeden Tag. Das bedeutet, dass die Klassenlehrkraft im Zweifelsfall mehr Zeit mit einzelnen Kindern verbringt als das eine oder andere Elternteil.
Wenn es gelingt, dann begleitet die Lehrkraft die Klasse über acht Jahre – also acht Jahre lang fünf Tage in der Woche knapp zwei Stunden. Acht Jahre lang Entwicklungszeugnisse verfassen und dafür im Laufe des Schuljahres Informationen sammeln. Also acht Jahre lang die Entwicklung aller Schüler:innen miterleben können. Viele Schulen entscheiden sich inzwischen dafür, die Klassen nach sechs Jahren an ein Mittelstufenteam zu übergeben. Dafür gibt es gute Gründe, die hier nicht diskutiert werden sollen, aber für das oben Beschriebene hat es auch Nachteile.
In der Regel gibt es einen recht engen Kontakt zu den Elternhäusern. Etwa alle sechs Wochen findet ein Elternabend statt, Fragen oder Problemen können direkt ausgetauscht werden. Elternarbeit ist ein schwieriges Thema und wird immer schwieriger, aber wenn es klappt, dass Eltern und Lehrkräfte an einem Strang ziehen, dann hat es eine ungemein positive Wirkung auf alle pädagogischen Prozesse.
Einander kennen
Es wird deutlich, dass eine Klassenlehrkraft die Möglichkeit hat, die Entwicklungsphasen der Schüler:innen einer Klasse umfassend wahrzunehmen. Vor ein paar Wochen kamen die ehemaligen Schüler:innen meines letzten Klassendurchgangs zu einem Klassentreffen zusammen.
Alles erwachsene junge Menschen, die immer noch guten Kontakt miteinander haben, obwohl die Schulzeit schon seit sechs Jahren zu Ende ist. Auf der Suche nach dem, was ihre Klassenlehrerinnen-Zeit ausmachte, kamen wir wiederholt auf den Punkt, dass man sich kannte. Dass man wusste, wie der andere tickt, was man voneinander erwarten konnte und durfte. Das hat Vertrauen geschaffen, Sicherheit gegeben.
Dieses Prinzip der achtjährigen Klassenlehrer:innen-Zeit ist von Beginn an essentieller Bestandteil der Waldorfschule gewesen. Wenn man nun die Frage stellt, inwieweit dieses Prinzip noch zeitgemäß ist, dann würde ich sagen: mehr denn je!
Die heutige Zeit ist geprägt von Diskontinuitäten, schnell wechselnden Bildern und Umständen, Atemlosigkeit und Termindruck. Beide Elternteile arbeiten, die Zeit für die Familie ist knapp bemessen, Familienzusammenhänge sind nicht mehr so fest und verlässlich, wie sie einmal waren. Kinder müssen funktionieren, damit die Eltern ihren stressigen Alltag bewältigen können. All das führt oft dazu, dass Kinder von einer betreuenden Hand zur nächsten gereicht werden, Musikunterricht, Sportvereine und Babysitter. Die Klassenlehrkraft hat die Möglichkeit, in dieser hektischen Welt eine Insel zu schaffen, in der acht Jahre lang Kontinuität herrscht. Jeden Morgen kommen immer dieselben Menschen zur gleichen Zeit zusammen und bewegen sich in bekannten Rhythmen durch den Tagesanfang. Das ist absolut einzigartig und vor allem zeitgemäß!
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