Ausgabe 09/24

Das Universum von der einen Seite berühren

Susanne Bregenzer

«Warum muss ich das überhaupt lernen?», fragt mein großer Sohn frustriert und starrt sein Instrument so wütend an, dass es an dieser Stelle ein Brandloch geben muss. Ich schwöre, es hat auch echt ein bisschen gequalmt! Ich hab´ es genau gesehen.

«Ja, Mama! Warum?» setzt der kleine Bruder sofort nach. Die sind wie Haie, wittern sofort wie Blut im Wasser mein Zögern.

Ähem. Tja. Also! Weil ich es sage?! Nein, kein gutes Argument.

Uff. Gute Frage.

Warum Vokabeln lernen, wo es doch online alle Übersetzungen gibt? Und warum zeichnen, wenn die KI das jetzt auch kann? Schreiben? Du kannst doch alle Texte fehlerfrei aus ChatGPT herauslassen. Die kann jetzt auch emotional. Anscheinend.

Wieso also das Instrument üben, wo man sich die Lieder doch viel perfekter gespielt herunterladen könnte? Was ist der Sinn davon, sich abzumühen mit den unwilligen Fingern und dem Zählen der Notenwerte? Was hat so ein schief gekratzter Ton auf der Saite eines Instruments eigentlich für einen Wert? Da gibt es doch sicher Leute, die das kratzfrei spielen können. Und dann gibt es ja auch Technik, die den Ton einfach nachbilden kann. Klirrend klar. Und auf die Nuance perfekt. Die Technik zählt auch richtig und hat kein Intonationsproblem. Nie. Wem das nicht reicht, der ist einfach nur altmodisch und «versteht gar nichts». Oder?

Ich überlege fieberhaft. Eine Antwort. Irgendwas pädagogisch Wertvolles, bitte! Oder doch einfach die Wahrheit? Meistens können Kinder damit mehr anfangen, auch wenn man fürchtet, sie wäre noch zu schwer zu verstehen. «Also. Das musst du lernen, weil es die einzige Möglichkeit ist, in dieser Welt noch zu einem inneren Frieden zu kommen», sage ich schnell.

«Haha, Mama! Von wegen Frieden!»

Ja, doch, habe ich ernst gemeint. Ganz einfach, hör zu … Wenn du den Blick in die Welt richtest, dann siehst du alles, weltweit, alles. Und obwohl du alles siehst, ist es irgendwie auch so, als würdest du nichts sehen, weil du es nicht ganz erfassen kannst.

Das geht von Kriegen, die wir nicht verstehen, zu Technik, die wir nicht durchschauen, zu Konflikten und Ungerechtigkeiten, die wir nicht ändern können und die nicht unsere sind. Aber nicht nur das. Es gibt so eine Menge Ablenkung und Eindrücke, die auf uns einströmen und dann so viele Themen, von denen wir eine Meinung haben sollten, aber die richtige und welche ist das überhaupt? Das ist so viel, dass wir leicht den Überblick verlieren.

Und nicht nur den – eigentlich verlieren wir uns selbst darin, werden hin- und hergerissen zwischen all den Emotionen, den Ängsten, der Wut, dem Gegeneinander und dem Gefühl der Hilflosigkeit in Anbetracht der Größe und Unübersichtlichkeit der ganzen Welt.

Und dann kannst du wieder zu dir selbst zurückkehren, hier her, in diesen Raum, in deine Wirklichkeit, in diesen Augenblick und dich nur auf das konzentrieren, was du tust. In dem du dein Instrument übst oder zeichnest oder schreibst und immer tiefer vordringst, eintauchst, klärt sich dein Inneres und ordnet sich. Du wendest dich einer Sache zu, nicht nur fünf Minuten im Vorbeihetzen, sondern intensiv, immer wieder, jeden Tag von Neuem. Und du spürst, dass du etwas verändern kannst. Heute geht die eine Stelle schwer zu spielen, das Zählen ist mühsam, du kämpfst dagegen an und dann arbeitest du dich hindurch und am nächsten Tag oder in der nächsten Woche wird es leichter. Du verlierst das Gefühl, hilflos zu sein. Es ist ein Konflikt, den du lösen kannst. Du. Mit deiner Kraft.

Und dann gibt es noch die ganz große Ordnung in diesen Dingen, die universelle, die wir spüren können, wenn wir selbst Musik machen, wenn wir ein Bild malen oder eine Geschichte schreiben, wenn wir im Garten arbeiten oder etwas aus Holz herstellen. Wir berühren dieses Universum gewissermaßen von einer Seite her und dürfen ein kleiner Teil davon werden, für diesen Moment. Sie wirkt auf uns und ordnet uns im Inneren, lässt uns zu Atem kommen und uns selbst wieder spüren.

Deshalb.

Deshalb ist es ganz egal, ob irgendwer oder irgendwas auf dieser riesigen Welt das, was du gerade machst, vielleicht besser und schneller kann. Es geht gar nicht um das Ergebnis, sondern nur darum, was es mit dir macht. Und genau so ist das immer. Du kannst das Große und Ganze nicht kontrollieren, nicht alles durchdringen und nicht umkrempeln, aber du kannst hier bei dir selbst anfangen.

Müdes Abwinken von Seite der Söhne. Zu viel Text, zu viel Herzblut, igitt. «Ach was, Mama, das ist doch Quatsch!» murrt der Größere.

Aber dann übt er doch noch ein paar Minuten weiter. Danach macht er die Hausaufgaben. Und wirkt dabei eigentlich ganz aufgeräumt und friedlich, jetzt, wo der Sturm für heute vorüber ist.

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