Die Lakota Waldorf School liegt in der Pine Ridge Reservation im Südwesten des US-Bundesstaates South Dakota in den Vereinigten Staaten.
Die Lakota Waldorf School feierte kürzlich ihr 30-jähriges Bestehen sowie die Einweihung eines neuen Klassen- und Gemeinschaftsgebäudes. Die Schule erhebt kein Schulgeld, sondern wird von einem Netzwerk individueller und institutioneller Spender:innen finanziert. Im Durchschnitt besuchen etwa 65 Kinder von der Vorschule bis zur achten Klasse die LWS. Zehn Lehrer:innen sowie Mitarbeitende in der Verwaltung, zwei Busfahrer und eine Köchin – größtenteils Lakota-Stammesmitglieder – engagieren sich dafür, dass diese Generation eine positive Zukunft für sich und ihre Gemeinschaft aufbauen kann.
Das neue Gebäude ist ein Vorzeigemodell ökologischen Bauens und wurde in siebenjähriger Bauzeit für fast drei Millionen Dollar errichtet. Es bietet einen großen, lichtdurchfluteten Empfangsbereich, Sunhall genannt, fünf großzügige Klassenräume, die jeweils zwei Klassen beherbergen, Verwaltungsräume, eine Cafeteria und eine voll ausgestattete Profiküche. Das alles ermöglicht ein vielseitiges Angebot an öffentlichen Veranstaltungen: Tage der offenen Tür, Feste, Schüleraufführungen und Benefizmärkte. So rückt der Wert der Waldorfpädagogik ins Licht – altersgemäße Bildung, erfahrungsorientiertes Lernen, Förderung von Vorstellungskraft, Kreativität, Eigeninitiative und Respekt vor der Natur. Das besondere Curriculum der Schule integriert die Kultur der Lakota, ihre Werte und ihre Lebensweise in den Schulalltag.
Pine Ridge ist eines von neun Reservaten in South Dakota. Es umfasst ein riesiges Gebiet mit neun Siedlungen – 40.000 Menschen auf über 1,1 Millionen Hektar leben hier. Das Land befindet sich im Treuhandbesitz der US-Bundesregierung für die indigenen Stämme, im konkreten Fall der Oglala Sioux Nation, dem größten Lakota-Teilstamm. Das Bildungsamt und der Stammesrat des Oglala Sioux Tribes überwachen die Schulen des Reservats, unterstützen die Mission der LWS und gewähren vollständige Autonomie bei Lehrplan, Organisation und Betriebsführung. Die Kinder von Pine Ridge zählen zu den benachteiligtsten des Landes. Trotz staatlicher Unterstützung leben über 50 Prozent der Familien unterhalb der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei bis zu 80 Prozent. Die Quote der Schulabbrecher:innen an den weiterführenden Schulen beträgt 60 Prozent, die Suizidrate Jugendlicher ist viermal so hoch wie im Landesdurchschnitt.
Die Schulleiterin und Mitbegründerin der Schule, Isabel Stadnick, berichtet, dass viele Kinder durch häusliche Gewalt, Alkoholismus oder Drogenkonsum belastet sind. «Oft fehlen ihnen positive Vorbilder – Perspektivlosigkeit, schwierige Lebensbedingungen und politische Machtlosigkeit führen bei vielen Erwachsenen zu Hoffnungslosigkeit und geringen Erwartungen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für diese Kinder war der Gründungsimpuls der Schule», so Stadnick.
Einem inneren Ruf gefolgt
Die Gründungsgeschichte der Schule basiert laut Stadnick auf mehreren glücklichen Fügungen. Sie selbst wuchs in der Schweiz auf, besuchte die Waldorfschule in Basel und studierte Sprachgestaltung und Schauspiel am Goetheanum. 1989 besuchte sie mit einer kleinen Gruppe das Pine Ridge Reservat. Sie folgte, wie sie sich erinnert, einem inneren Ruf: eine tiefe Verbundenheit mit den Stämmen in der amerikanischen Prärie, vor allem den Lakota.
Die Gruppe wohnte in Tipis nahe Kyle, einer der Gemeinden in der Mitte des Reservates. Abends kamen Lakota, die am Lagerfeuer von ihrer Philosophie und Geschichte erzählten. Zu Isabels Überraschung erwähnte ein Lakota den Namen Rudolf Steiner. Dann traf sie auf Robert Stadnick, einen Lakota, der in seiner einfachen Erdunterkunft ein Buch von Steiner besaß – ein Erbe eines pensionierten Lakota-Schulleiters.
Isabel und Robert heirateten. Er hatte bereits vier Kinder, gemeinsam bekamen sie noch drei. Wie viele Lakota-Eltern machten sie sich Sorgen um die Schulbildung, denn das staatliche Curriculum der öffentlichen Reservatsschulen förderte keine positive Lakota-Identität. In Gesprächen mit anderen Eltern entstanden Überlegungen zu alternativen Modellen. Da Rudolf Steiner bei einigen Lakota, die im Bildungswesen arbeiteten, schon ein Begriff war, war der Schritt zur Waldorfpädagogik nicht weit. Isabel brachte ihr Wissen ein und es zeigte sich, dass Waldorfpädagogik und traditionelle Lakota-Kindererziehung viele Gemeinsamkeiten haben: Werte, Bräuche, Haltungen werden durch Geschichten vermittelt, Kinder erwerben im Spiel und bei praktischen Arbeiten wichtige Fähigkeiten, Dankbarkeit und Ehrfurcht vor allem Leben stehen ebenso im Mittelpunkt wie soziale Verbundenheit.
Isabel und drei Lakota-Älteste reisten nach Dornach in der Schweiz und baten Heinz Zimmermann, den damaligen Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, um Rat. Ob es möglich sei, eine Waldorfschule mit Lakota-Sprache und -Kultur zu gründen? Seine Antwort: Es wäre keine Waldorfschule, wenn sie nicht mit der Kultur und Sprache des jeweiligen Volkes erfüllt wäre.
Wie das Buch von Rudolf Steiner seinen Weg ins abgelegene South Dakota fand, bleibt unklar. Sicher ist: Isabels Großeltern, Caroline und Walter Sommer, lernten Steiner in London in den frühen 1920er Jahren persönlich kennen, die Familie engagierte sich später in der Anthroposophischen Gesellschaft.
Kämpfe und langsames Wachstum
1993 wurden mit Spendengeldern 16 Hektar Land gekauft. Darauf haben lokale Freiwillige und Waldorfschüler:innen aus Europa ein einstöckiges Gebäude errichtet. Anfangs gab es nur ein Kindergartenprogramm. Der erste Waldorflehrer unterrichtete während eines Sabbaticals zwei Jahre lang, weitere erfahrene Waldorflehrer:innen kamen später als Mentor:innen für die Lakota-Lehrkräfte hinzu.
Die LWS ist die einzige indigene Waldorfschule in den USA und die einzige Schule im Reservat, die sich dezidiert der Dekolonisierung der Lakota-Bildung widmet und dafür einen kulturell relevanten Lehrplan mit Lakota-Inhalten und -Aktivitäten entwickelt hat. Ein Lakota-Kulturspezialist im Kollegium gestaltet Kunst, Handwerk, Theater und Zeremonien. Die Lakota-Sprache steht im Fokus eines immersiven Programms, um dem Risiko des Sprachverlusts entgegenzuwirken.
Die Klassenspiele am Ende jeden Schuljahres zeigen auf der Open-Air-Bühne oft Stücke, die aus der Lakota-Mythologie kommen oder aus dem Geschichtsunterricht.
Ein großes Gewicht wird dem Tanzen und Singen gegeben, wichtige Elemente der Lakota-Kultur. Im Frühjahr, wenn der erste Donner über das Land rollt, wird
die Welcoming-of-the-Thunderbeeings-Zeremonie durchgeführt. Dafür versammeln sich alle Kinder und Lehrpersonen auf dem kleinen Hügel neben der Schule und begrüßen feierlich die Donnerwesen.
Unterricht im Jugendgefängnis und indigene Waldorfpädagogik
2023 hat die Lakota Waldorfschule ein zusätzliches, neues Programm entwickelt. Im Pine Ridge Reservat gibt es ein Jugendgefängnis für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren, wo die Jugendlichen weder Unterricht oder Förderung erhielten. Durch die Initiative von Celestine Stadnick bekam die LWS den Auftrag von der Stammesregierung, Unterricht im Jugendgefängnis durchzuführen – Lakota-Kultur, Gartenarbeit, Kunsttherapie und Vorbereitung auf den Schulabschluss.
Isabels Töchter, beide Stammesmitglieder, haben Ausbildungen zur Waldorflehrerin an der Akademie für Anthroposophische Pädagogik in Dornach und zusätzliche Masterabschlüsse in Schulmanagement beziehungsweise Sonderpädagogik abgeschlossen. Celestine ist inzwischen Schulleiterin an einer Stammesschule und Caroline leitet das Kollegium und die Lehrer:innenausbildung der LWS.
Eine zentrale Herausforderung ist die Gewinnung qualifizierter indigener Lehrkräfte, die auch die Lebensumstände der Kinder verstehen. Das Studium an Waldorf-Ausbildungsstätten ist für viele Lakota nicht möglich und zu teuer. Unter Leitung von Celestine wurde 2019 in Zusammenarbeit mit der Dornacher Akademie eine eigene Akademie gegründet, die Acadamy for indigenous Waldorf Pedagogy. Sie vergibt nach vierjähriger Ausbildung das Waldorf-Zertifikat an indigene Lehrpersonen, die ihre Ausbildung an der Lakota Waldorfschule machen – einzigartig in den USA.
Seit der Gründung 1993 wird die LWS ausschließlich durch Spenden und Stiftungsgelder finanziert, ein Großteil der Finanzierung kommt von US-Stiftungen. Eine Waldorfschule ohne Schulgeld ist möglich, aber es verlangt unermüdliches Fundraising und eine Gemeinschaft, die zusammen an einer Vision arbeitet.
2022 hat Isabel mit dem Lakota-Waldorfteam eine landesweite Kampagne lanciert und alle Waldorfschulen in den USA und Kanada aufgefordert, indigenen Kindern das Schulgeld zu erlassen, damit auch sie eine Chance auf waldorfpädagogische Bildung bekommen. Und da alle Schulen auf einst indigenem Land stehen, ist dies auch eine Geste der Versöhnung, die längst überfällig ist. Einige Waldorfschulen in den USA haben diesen Impuls bereits in die Tat umgesetzt.
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