Ausgabe 05/24

Demokratie und Partizipation - Auf die Haltung kommt es an! Teil 1

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Ulrike Sievers: Das ist schon interessant, wie manchmal ein Thema so auf einen zukommt und sich plötzlich aus verschiedenen Richtungen meldet. Das kennst du sicher auch, oder? Es begann mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, an einem Gespräch für einen Podcast zum Thema Medienpädagogik und Demokratie teilzunehmen. Zunächst dachte ich, dass das ja gar nicht so direkt mein Thema sei – aber dann habe ich mich etwas umgeschaut zum Thema Demokratie und mir ist aufgefallen, wie viele Berührungspunkte es mit dem gibt, was mir im Umgang mit jungen Menschen ein Anliegen ist und was ich in meinem Unterricht umzusetzen versuche.

So bin ich zum Beispiel durch eine Empfehlung eines Freundes zur gleichen Zeit auf einen Podcast mit Claudine Nierth von der Initiative Direkte Demokratie gestoßen, in dem sie darüber spricht, wie Menschen durch die Möglichkeit der Mitsprache und Partizipation, zum Beispiel in Form von Bürgerentscheiden oder Bürgerberatungsrunden, die Chance bekommen, mitzugestalten und selbst aktiv Verantwortung zu übernehmen - und sich so eher mit der Gemeinschaft zu identifizieren. Während ich das gehört habe, musste ich immer wieder an Schule denken - und an die Beschreibung vieler Kolleg:innen, dass die Jugendlichen oftmals wie nicht wirklich beteiligt wirken und es schwer haben, für ihre eigenen Lernprozesse die Verantwortung zu übernehmen. Und in der ganzen Frage der Selbstverwaltung begegnen uns diese Phänomene ja auch. Wer nicht mitgestaltet, steht der Sache oft skeptisch und fordernd gegenüber - ja gegenüber - und fühlt sich nicht als Teil eines Prozesses, in dem gemeinsam Schule gestaltet wird. Andererseits erleben die Menschen, die mit-tun, diese Beteiligung und die Möglichkeit, mitzugestalten, neben der Belastung oft auch als Bereicherung. Und als ich dann auf der letzten Delegiertentagung mit einem Schüler aus der Bundes-SV sprach und der den Wunsch formulierte, dass Schüler:innen mehr mit einbezogen werden sollten, zum Beispiel bei der Entwicklung des Schutzkonzeptes, bei dem es zwar um den Schutz aller an Schule Beteiligten gehe, aber der Schutz der Schüler:innen ja doch eine zentrale Rolle spiele. Wir Waldorfschulen scheinen uns mit dem Einbeziehen von Eltern und Schüler:innen bei pädagogischen Fragen und in der Schulgestaltung manchmal noch etwas schwerzutun.

Die Sorge, dass durch eine Beteiligung von Eltern und Schüler:innen wichtige Prinzipien aufgeweicht werden könnten, scheint oft größer zu sein als das Vertrauen, dass alle etwas dazu beitragen können, Schule zukunftsfähig zu machen. 

Martyn Rawson: Unsere Einstellung zu bestimmten Ideen wird ja oft von dem Verständnis geprägt, dass wir von deren Ursprüngen haben. Das Interessante an der Demokratie ist, dass sie auf verschiedene historische Ursprünge zurückzuführen ist. In der Geschichte der Demokratie werden die Ursprünge gewöhnlich in Athen zwischen 508 und 322 vor Christus gesucht, und in der Tat war es ein wichtiges Experiment, das ein System beinhaltete, in dem männliche Bürger - der Demos - gleiche politische Rechte, Redefreiheit und die Möglichkeit hatten, sich an der Politik zu beteiligen, und dass dieser Prozess von Institutionen unterstützt wurde, die die Gesetze erließen. Dieses System, das sich auch in anderen Städten fand, schloss Frauen, ansässige Ausländer:innen und natürlich Sklav:innen aus. Obwohl von ihnen die gesamte Wirtschaft Athens abhing. Schon zeitgenössische Kritiker wiesen darauf hin, dass der Demos eigentlich elitär war und sogar einige Entscheidungen traf, die nicht im Interesse der Polis, der Allgemeinheit, lagen.

Diese klassische Geschichtsdarstellung übersieht die Tatsache, dass viele andere Kulturen nachhaltige Formen der partizipativen Demokratie praktizierten. Es ist bekannt, dass die meisten Jäger- und Sammlergemeinschaften über viele Jahrtausende hinweg egalitär gelebt haben. Das berühmteste dieser alternativen Systeme war das Große Friedensgesetz der Fünf-Nationen-Konföderation der Haudenosaunee (Irokesen), das im 16. Jahrhundert von einem Mann namens Deganawideh Peacemaker und Jigonsaseh, einer Frau, die als Mutter der Nationen bekannt war, eingeführt worden ist oder auch eine Wiederbelebung eines viel früheren Prozesses war. Dieser grundsätzlich integrative, partizipatorische und demokratische Regierungsprozess sollte den Frieden zwischen den ehemals verfeindeten Nationen erhalten und die sozialen Beziehungen regeln. Viele seiner Kernideen, wie das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der Nation, wurden von einigen der Gründerväter der amerikanischen Verfassung wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin übernommen. Das Große Friedensgesetz der Houdenosaunee war stark von der Idee sozialer Freiheiten geprägt: Bewegungsfreiheit, die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren, und die Freiheit, die Gesellschaft so zu gestalten, wie es dir sinnvoll erscheint. Diese Vorstellungen von Freiheit waren in den indigenen Gesellschaften Nordamerikas weit verbreitet.

Ein anderes Modell der Demokratie war das der Nonkonformisten und Dissidenten im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese radikalen Protestanten glaubten, dass keine Institution zwischen einem Menschen und seiner Spiritualität eingreifen oder vermitteln kann, deshalb duldeten sie keine Priester oder institutionalisierten Religionen. Sie glaubten, dass der Geist in jedem Menschen steckt, auch in Frauen und Kindern. Deshalb setzten sich Gruppen wie Calvinisten, Quäker, Shaker, Baptisten, Presbyterianer und andere für Religionsfreiheit sowie für Gleichheit und Gerechtigkeit für alle und damit gegen jede Form von Diskriminierung und Zwang durch höhere Instanzen ein. Je näher diese Bewegungen dem Volk waren, desto inklusiver und demokratischer waren sie.

US: Bei der Frage der Demokratie spielt also die Haltung eine zentrale Rolle. Allgemein gesellschaftlich besteht unsere Aufgabe gegenwärtig offenbar darin, einerseits die bestehende Diversität der Menschen anzuerkennen und sie andererseits als gleich anzusehen. Wobei sich dann vermutlich immer wieder die Frage stellen wird, ob es Unterschiede in Bezug auf die Gleichheit geben kann beziehungsweise darf - ob zum Beispiel bestimmte Gruppierungen in Bezug auf Fragestellungen, die nur sie angehen, nicht doch auch ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Mir fallen da zum Beispiel Diskussionen über das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in Bezug auf die Fragestellungen ein, die ihren Körper betreffen - und so gibt es noch andere Themen und Situationen, wo ähnliche Fragen entstehen könnten.

Müssen wir also definieren «gleich in Bezug auf»? Wer sollte über was beraten und entscheiden? Welche Qualifizierung braucht es? Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen kommt dann ja noch die Frage hinzu, wieviel Mitsprache ich Kindern und Jugendlichen in welchem Alter zutraue - oder andersherum, ab welchem Alter ich von Kindern und Jugendlichen Beiträge und Einsichten erwarte, die ich für wertvoll halte.

Gerade in der Erziehung ist das heute ein umstrittenes Thema. Während die einen schon bei den ganz Kleinen dazu tendieren, sie in alle Entscheidungen einzubeziehen, sagen die anderen, das würde kleine Kinder überfordern, sie bräuchten die Sicherheit, dass Erwachsene die Entscheidungen treffen, auf die sie sich dann verlassen und an denen sie sich orientieren können. In Schule und Hort gibt es Ansätze wie Kinderkonferenzen, Kinderparlamente oder den Klassenrat, die Schüler:innen beteiligen und ihnen demokratische Strukturen näherbringen sollen. Und auch hier wird diskutiert, welcher Zeitpunkt der richtige dafür ist.

Wie stand denn eigentlich Rudolf Steiner zur Frage der Demokratie? Finden sich bei ihm Aussagen dazu, wie und ab wann diese Themen für Kinder und Jugendliche relevant werden und welche Rolle sie in der Pädagogik spielen sollten?

MR: Es ist eine interessante Frage, welcher Tradition der Demokratie Rudolf Steiner angehörte. Er hat nie in einem demokratischen Staat gelebt und nie gewählt, und es scheint, dass er die Begriffe demokratisch und republikanisch austauschbar verwendet hat. Der schwedische Professor Bo Dahlin hat argumentiert, dass Steiners Vorstellung von Demokratie auf der Idee der Bildung oder der Selbstbildung des Menschen basierte, denn jeder Mensch kann und wird sein angeborenes Potenzial entwickeln, wenn er die Gelegenheit dazu erhält. Das zeigt die wahre Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, denn wenn jeder Einzelne sein Potenzial frei entfalten kann, ist er in der Lage, es in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen und so eine soziale Erneuerung zu ermöglichen. Dies ist der Kerngedanke der Waldorfpädagogik. In Anlehnung an Steiners Sozialtheorie wird das soziale Wohlergehen nicht dadurch gefördert, dass die Gesellschaft sich nach ihrem eigenen Bild reproduziert, sondern dadurch, dass sie die freie Entwicklung des Einzelnen ermöglicht. Der niederländische Bildungspädagoge Gert Biesta nennt dies «das schöne Risiko der Erziehung». Anstatt Kinder und Jugendliche zu zwingen, den standardisierten Anforderungen des Staates zu entsprechen oder der Wirtschaft zu dienen, werden sowohl die Zivilgesellschaft als auch die Wirtschaft von der neuen Energie, den Perspektiven und den Ideen der heranwachsenden Generation besser profitieren, solange sie Raum haben, ihr Potenzial zu entwickeln.

US: Das erinnert mich sehr an das, was Otto Scharmer in der Theorie U umgesetzt hat: nämlich ein Instrumentarium zur Begleitung von Entwicklung - für Individuen ebenso wie für Gruppen oder Organisationen -, bei dem alle Beteiligten einbezogen werden und das darüber hinaus auch den Blick in die Zukunft und die Frage nach bestehenden Potenzialen mit einbezieht.

MR: Leider wollen offenbar nur sehr wenige Regierungen oder Bildungssysteme dieses Risiko eingehen. Und selbst die Waldorfpädagogik scheint oft mehr als bereit, sich in den Dienst nationaler Standards zu stellen, und Kolleg:innen verwenden viel Energie darauf, die Anforderungen der staatlichen Prüfungen in einer Weise zu erfüllen, die zum Teil unnötig ist und das tatsächliche Potenzial der jungen Menschen eher einschränkt als es zu fördern. 

US: Ein Grund mehr, das Thema Demokratie und Schule von verschiedenen Blickrichtungen aus zu betrachten, weshalb wir dieses Gespräch in der nächsten Ausgabe fortsetzen werden.

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ENDE Teil1, Fortsetzung folgt

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