Ausgabe 06/24

Demokratie und Partizipation – Teil 2: Auf die Haltung kommt es an!

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Ulrike Sievers: Martyn, wir hatten den ersten Teil unseres Gespräches mit der Frage beendet, wie Rudolf Steiner die Begriffe Demokratie und Partizipation verwendet hat bzw. verstanden haben mag. Lass uns den Faden d doch nochmal aufnehmen und genauer hinschauen. 

Martyn Rawson: Ja gerne. Auf Steiners Verwendung der Begriffe demokratisch und republikanisch war ich ja schon eingegangen.  

Steiners Vorstellung vom guten Leben war, dass der Einzelne von der Gemeinschaft unterstützt wird, um sein Potenzial zu entwickeln, und dass das Wohlergehen der Gesellschaft vom Gemeinschaftsbewusstsein des Einzelnen abhängt.  Eine sozial gerechte Gesellschaft ist eine, die dies für alle Bürger:innen ermöglicht und in diesem Sinne demokratisch ist. Das Potenzial des Menschen liegt eher im kulturellen als im wirtschaftlichen Bereich und kann nicht nach staatlich festgelegten Normen geformt werden. Die Aufgabe des Staates ist es, durch soziale Gerechtigkeit, Antidiskriminierung und freien Zugang zu Bildung gleiche Bedingungen zu schaffen, die nur der Staat bieten kann. Diese Idee deckt sich mit den heutigen Vorstellungen von Zivilgesellschaft. 

Die anthroposophische Menschenkunde geht von einem universellen Menschen aus oder vielmehr von dem, was im Menschen universell ist. Dieser Universalismus bedeutet allerdings nicht, dass alle Menschen gleich sind oder dass es sogar ein universelles Modell gibt, etwa im Hinblick auf einen festen Zusammenhang von Entwicklungsschritten und Alter. Tatsächlich ist die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht durch Normen, sondern durch Variationen gekennzeichnet - Unterschiede sind normal. Remo Largo, der berühmte Experte für kindliche Entwicklung, hat empirisch festgestellt, dass die normale Spanne der gesunden Entwicklung von Kindern im Alter von sechs Jahren drei Jahre beträgt und dass sie im Alter von 13 Jahren mehr als sechs Jahre betragen kann. Das bedeutet, dass es keine typischen Schüler:innen der Klasse drei oder neun geben kann. Vielmehr entscheiden wir uns für einen gewissen Mittelwert als eine Orientierung, zu der sich die Kinder dann in Beziehung stellen.  Und wir kalkulieren von vornherein ein, dass die Unterschiede natürlich vorhanden sein werden. Alles andere wäre undemokratisch und pädagogisch wenig sinnvoll. 

Andererseits ist es demokratisch, alle Kinder unabhängig von ihren Fähigkeiten in eine Waldorfklasse mit gleichaltrigen Kindern aufzunehmen, und es wäre undemokratisch, einige für die Aufnahme auszuwählen und andere außen vor zu lassen. Demokratie hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit, Inklusion, Partizipation und Akzeptanz von Vielfalt zu tun. Demokratisch bedeutet, alle zu akzeptieren, Unterschiede anzuerkennen, ohne Werturteile zu fällen, und gleichzeitig allen die Möglichkeit zu geben, sich zu beteiligen und ihr Potenzial zu entwickeln.  

Wie wir das tun, ist eine andere Sache und Gegenstand des Handwerks, der Wissenschaft und der Kunst der Pädagogik. Darüber haben wir uns im #waldorflernt-Podcast im Februar unterhalten. Demokratie funktioniert auf der Ebene der Anerkennung des Einzelnen und seines Rechts auf Beteiligung. Schon diese Grundhaltung macht einen Unterschied und ist entscheidend für alle praktischen pädagogischen Maßnahmen, die wir ergreifen müssen. Das Recht, als das Individuum akzeptiert zu werden, was wir sind, und die Bereitschaft der Verantwortlichen, das Recht jedes Kindes auf Teilhabe und Entwicklung seines Potenzials anzuerkennen - egal, auf welcher Ebene sich das manifestiert – das ist demokratische Pädagogik. Ein selektives Bildungssystem ist von Grund auf undemokratisch und kann kaum erwarten, dass es bei seinen Schüler:innen ein demokratisches Bewusstsein und demokratische Fähigkeiten entwickelt. 

Ulrike Sievers: Da wären wir dann bei Fragen der Binnendifferenzierung und der Inklusion im Unterricht, was sicher auch spannende und wichtige Themen sind. Aber ich würde gerne nochmal auf die Frage der Partizipation von Schüler:innen und Eltern an der Gestaltung von Bildung zurückkommen.  

Wir haben über die Bedeutung der Haltung in Bezug auf Demokratie gesprochen. Ich sehe da eine Wirksamkeit in zwei Richtungen. Zum einen kommt es auf die Einstellung von Entscheidungsträger:innen an. Wieweit sind sie daran interessiert, alle Stimmen zu hören und einzubeziehen, bevor sie Entscheidungen fällen? Aber andersherum spielt natürlich auch die Haltung der Einzelnen eine Rolle in Bezug auf die Frage, inwieweit sie sich an Entwicklungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen wollen, ob sie bereit sind, Kraft und Zeit für eine verbindliche Mitarbeit aufzuwenden. Und das gilt meines Erachtens nach im Bereich der kollegialen Führung, der Selbstverwaltung, ebenso wie im Hinblick auf Elternvertretungen und Vertretungen der Schüler:innen.   

Über das Thema Selbstverwaltung beziehungsweise kollegiale Schulführung habe ich schon einige #waldorflernt-Podcast-Folgen gemacht, in denen unterschiedliche Formen und vielfältige Erfahrungen von Kollegien und Kolleg:innen deutlich wurden. Ich habe den Eindruck, dass es neben einer gewissen Diversität an möglichen Organisationsformen doch sinnvoll ist, sich über die grundlegenden Zielsetzungen einig zu werden. Wenn ich zum Beispiel höre, dass an vielen Schulen die Arbeit in der kollegialen Selbstverwaltung gar nicht als Arbeitszeit gezählt und berechnet wird, dann finde ich es wenig erstaunlich, dass sich Kolleg:innen davon überfordert und belastet fühlen. Auch wenn lange Beratungsprozesse dann zu keinen Entscheidungen führen oder es keine Strukturen gibt, Entscheidungen umzusetzen, kann ich einen Frust durchaus verstehen. Hier scheint noch einige Entwicklungsarbeit nötig.  

In Bezug auf die Frage, inwieweit Schulen Eltern und Schüler:innen in Schulgestaltungsprozesse einbeziehen, ist die Waldorflandschaft offenbar ebenfalls sehr divers. Da gibt es Schulen, bei denen Vertreter:innen der Schülerschaft und der Eltern in bestimmten Konferenzen vertreten sind und beteiligt werden, und es gibt auch die anderen, für die Schule eine Sache der Lehrkräfte ist und die Schüler:innen und Eltern insofern nicht oder sehr wenig einbeziehen.  Hier fand ich die Gedanken der direkten Demokratie aus dem erwähnten Podcast mit Claudine Nierth ausgesprochen anregend. Ich denke, es wäre lohnenswert, Formen zu entwickeln, die alle an Schule Beteiligten einbeziehen, sodass alle Ideen und Erfahrungen einfließen und das ganze Potenzial einer Gemeinschaft genutzt werden kann. Regelmäßige Gesprächs- und Beratungsrunden als Raum für offenes Hinhören und vorurteilsfreie gegenseitige Wahrnehmung wären da sicher ein erster Schritt. Und ich denke, auf diesem Wege ließe sich auch das Gefühl stärken, dass wir letztendlich nur gemeinsam die Verantwortung für eine nachhaltige gesunde Bildung tragen können.  

Martyn Rawson: Auch hier finde ich einen Blick in die Geschichte der Waldorfpädagogik recht aufschlussreich.  Als Steiner sagte, die Waldorfschule solle eine echte Lehrkraft-Republik sein (was er später auch als republikanisch-demokratischen Prozess bezeichnete), bezog er sich zunächst auf die jüngsten Erfahrungen Deutschlands mit sozialistischen Räterepubliken nach der deutschen Revolution. Indem er vorschlug, dass die Schule von einer «wahren» Republik der Lehrkräfte geführt werden sollte, die sich auf die pädagogische Leitung und nicht auf den wirtschaftlichen oder juristischen und politischen Bereich bezog, plädierte Steiner für eine Gewaltenteilung, in der die pädagogische Einheit und der Zusammenhalt der Schule auf der Forschung und der pädagogischen Praxis der Lehrkräfte beruhen sollten – mit anderen Worten, auf der Tätigkeit eines freien Kulturbereichs. «Dann müsste sehr scharf die Freiheit des Lehrerkollegiums betont werden, die republikanisch-demokratische Einrichtung des Lehrerkollegiums, um zu beweisen, dass man sogar in den begrenzten Möglichkeiten, die man hatte, ein freies Geistesleben sich denken kann.» (Steiner, Konferenz, 16.11.1921) 

Die Verbindung, die Steiner zwischen einem republikanisch-demokratischen Prozess und einem freien Geistesleben herstellt, ist nicht offensichtlich und erfordert zwei Schritte. Der erste ist, dass die Lehrkräfte für die Schulführung verantwortlich sein sollten, im Gegensatz zu externen, höheren oder hierarchischen Autoritäten. Schulführung in diesem Sinne bedeutet, die Vision der Schule zu tragen, für die waldorfpädagogische Qualität der Pädagogik verantwortlich zu sein und die Praxis und den Lehrplan zu entwickeln. Das ist die Freiheit derjenigen, die kulturell produktiv sind. Die andere Frage ist, wie sie das tun. Demokratisch bedeutet, dass jeder seinen Beitrag leisten kann und soll, und republikanisch bedeutet, dass er dies im Interesse des Ganzen, des res publica, tut - also der Schule. Wie die beteiligten Menschen das untereinander organisieren, ist Teil des demokratischen Prozesses, denn nur sie sollten bestimmen, wie Entscheidungen getroffen und Rechenschaft abgelegt werden. Mir sind keine Hinweise darauf bekannt, dass Steiner jemals vorgeschlagen hat, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Und selbst wenn es so wäre, hat sich das meiner Erfahrung nach als keine gute Idee für die tägliche Leitung von Waldorfschulen erwiesen.  


Ulrike Sievers: Gegenwärtig sind viele Schulen dabei, neue Formen zu erkunden, und es scheint mir eine spannende Herausforderung zu sein, dabei Wege zu finden, die einerseits die Kolleg:innen und Mitarbeit:innen als gleich einbeziehen und andererseits effiziente und schlanke Strukturen zu schaffen, in denen die Schulführungsarbeit kompetent und qualifiziert geleistet und vergütet wird – ohne die volle Entscheidung an Wenige zu delegieren, die dann wissen sollen, was das Beste für die Gesundheit aller, der res publica, ist. Da gibt es wohl noch einiges für uns alle zu tun!  

Dort, wo es innerhalb der Kollegien Bedenken für mehr Beteiligung von Eltern und Schüler:innen gibt, wäre es vermutlich ein wichtiger Schritt, sich zunächst die eigenen Sorgen und Ängste bewusst zu machen, um dann lebbare Formen zu entwickeln. Und gleichzeitig stellt sich für alle Beteiligten, Lehrkräfte, Mitarbeiter:innen, Eltern und Schüler:innen (hier in jeweils altersangemessener Form) die Frage, inwieweit sie sich Gedanken der Demokratie und Partizipation verbunden fühlen und bereit sind, sich mitwirkend und Verantwortung-übernehmend in die Gestaltung einer zukunftsfähigen Schule beziehungsweise Bildung einzubringen. 


Die Podcasts #waldorflernt und waldorf.perspektiven kann man überall abonnieren, wo es Podcasts gibt.  

 

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