«Anfangs dachten wir, das wäre gar nicht so schwer. Denn als wir uns auf den Weg machten, gab es bereits Schulen mit sehr guten Ausarbeitungen und wir nahmen an, da könnten wir einiges übernehmen. Dem war aber nicht so», erinnert sich Sophia Klipstein. Die Kunst- und Klassenlehrerin war in den vergangenen sechs Jahren Teil des Leitungsteams an der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg-Bergstedt und außerdem eine der Hauptverantwortlichen für die Erstellung des Schutzkonzeptes. Beteiligt waren außerdem die Lehrerinnen Carolin Scholz und Julia Viehöver. Die drei merkten schnell, dass sich ein Konzept nicht einfach von einer Schule auf die andere übertragen lässt, wenn Abläufe, Strukturen und Räumlichkeiten verschieden sind. Eva Wörner, Vorständin im BdFWS, und Kirsten Heberer, verantwortlich für die Anlaufstelle des Bundes, finden es sogar unerlässlich, dass jede Schule von Anfang an ihren eigenen Weg sucht und geht. Denn ein wirksames Schutzkonzept sei weit mehr als ein gut zu lesendes Papier. Es basiere auf einem Bewusstseinswandel in jedem einzelnen der Menschen der Schulgemeinschaft. Und die größte Chance, dass sich dieser Bewusstseinswandel vollzieht, sehen die beiden in einem individuellen Erarbeitungsprozess, an dem möglichst viele Personen beteiligt sind. «Dieser Bewusstseinswandel kann nach so einer verhältnismäßig kurzen Zeit von ein bis zwei Jahren, die die Erarbeitung eines Schutzkonzeptes in der Regel dauert, natürlich nicht abgeschlossen sein. Er ist im Gegenteil genau das, was am längsten dauert und in Einzelfällen vielleicht auch gar nicht geschieht», sagt Heberer. Ihr und Kollegin Wörner ist bewusst, dass die Verpflichtung, ein Schutzkonzept zu erarbeiten, für viele Schulen eine Zumutung war und mancherorts vieles auf den Kopf gestellt hat. «Es geht darum, den heiligen Teppich hochzuklappen und an den tiefsten Schmerz zu kommen», beschreibt Heberer den Prozess, den in dieser Konsequenz noch nicht alle Schulen durchlaufen hätten.
Keine falschen Vorstellungen
Auch Klipstein und ihre Mitstreiterinnen haben erlebt, dass die Frage nach dem Schutzkonzept bei manchen Kolleg:innen stark am Selbstbild gerüttelt hat. «Braucht es wirklich eine Vertrauensstelle in der Schule? Dafür ist doch die Klassenlehrkraft da», zitiert Sophia Klipstein Aussagen aus dem Kollegium. Besonders das Selbstverständnis von Klassenlehrkräften sowie die Erwartungen an ihre Rolle seien manchmal nicht leicht mit den Vorstellungen eines Schutzkonzeptes in Einklang zu bringen gewesen sein. Andererseits seien einige Klassenlehrer:innen auch froh gewesen, nun Unterstützung zu bekommen. Wörner und Heberer verstehen die Sensibilität dieses Themas, sagen dazu aber ganz klar: «Wir dürfen uns keinen falschen Vorstellungen hingeben. Wo eine besondere Nähe ist, ist eine auch besondere Gefahr für übergriffiges Verhalten. Das müssen wir ernst nehmen und professionell rahmen. Deshalb wird niemand pauschal verdächtigt und es werden auch niemandem Kompetenzen abgesprochen.» Anzuerkennen, dass Macht ein unweigerlicher Faktor in jedem Schulgefüge ist, weil die Rollen von Schüler:innen und Lehrer:innen das naturgegeben mit sich bringen, war für die Beteiligten in Hamburg zwar schwer, aber wichtig und gewinnbringend, sagt Scholz, die an der Schule Sportunterricht gibt und darüber hinaus Kinderschutzbeauftragte in der Ansprechstelle der Schule ist. Ihr Team in der Ansprechstelle nennt Scholz «einen unglaublich tollen Haufen», weil dort so viel fachspezifisches Know-how gebündelt sei. Aus der Elternschaft hätten sich zwei Frauen für das Amt bereiterklärt, die hauptberuflich als Psychologin beziehungsweise als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeiten, sowie ein Vater, der in der Jugendhilfe tätig ist. Besser könnte die Ansprechstelle nicht besetzt sein, finden Klipstein und Scholz. Das sehen auch Wörner und Heberer so. Sie geben allerdings zu bedenken, dass es nicht von den jeweiligen Berufen der aktuellen Elternschaft abhängen darf, wie qualifiziert die Ansprechstelle besetzt ist. Das gleiche gelte für die Vertrauensstelle. «Die Vertrauensstelle ist das Herzstück des Schutzkonzeptes. Wer diese Aufgabe übernimmt, muss gut dafür geschult werden. Fortbildungen sind das A und O», macht Heberer deutlich. In Hamburg-Bergstedt sind die Beteiligten zu dem Schluss gekommen, dass die Vertrauensstelle am besten in der Verantwortung eines Menschen mit schulsozialarbeiterischer Ausbildung liegen würde. Denn Lehrkräfte in diesem Amt geraten schnell in den Spagat, Anwält:in des Kindes und weiterhin auch Kolleg:in sein zu sollen. «Unabhängigkeit und Neutralität, die es dringend braucht, sind sonst nur schwer möglich», sind sich alle Gesprächspartnerinnen einig. Doch eine Stelle für Schulsozialarbeit zu schaffen, ist eine Entscheidung, die verhandelt werden und von der gesamten Schulgemeinschaft getragen werden muss – auch in Hamburg-Bergstedt.
Wissen von außen nutzen
Unerlässlich ist in den Augen von Wörner und Heberer auch die Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartner:innen. Mobbing, sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch, Extremismus, Süchte, psychische Probleme – all das seien Welten für sich, die sich Menschen in der Schule nicht auch noch nebenher erschließen könnten. Um betroffene Schüler:innen überhaupt identifizieren, geschweige denn ihnen gerecht werden zu können, bräuchte es Expert:innenwissen von außen. «Warum nicht Vertreter:innen einer Fachstelle einladen, um das Präventionsangebot zum Thema Mobbing durchzuführen, das im Schutzkonzept verankert ist», fragt Heberer schulterzuckend. Nichtsdestotrotz wünschen sie und Kollegin Wörner sich, dass grundlegendes Fachwissen zu Kinderschutzthemen mehr Gewicht in der Ausbildung von Lehrkräften bekommt. Welche Grenzen sind im Verhältnis zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen zu ziehen? Wie finde ich den richtigen Umgang mit Nähe und Distanz? Was sind meine persönlichen Trigger als Lehrkraft? Was provoziert mich? Wann fahre ich aus der Haut? Das seien entscheidende Fragen, die in die Ausbildung einfließen sollten. Aus-der-Haut-fahren, getriggert werden, genervt sein, die professionelle Haltung verlieren aufgrund von Überforderung, zu wenig Erfahrung, Personalmangel und hohem Krankenstand – solche Reaktionen, die sich für Klipstein im Graubereich abspielen, zeigten sich an der Hamburger Schule als häufigstes grenzüberschreitendes Verhalten. «Lehrer:innen, die laut werden, eine unsensible Sprache wählen, Schüler:innen vor die Tür schicken und ähnliche Phänomene haben im Zusammenhang mit dem Schutzkonzept dazu geführt, dass das Thema Kommunikation einen großen Stellenwert bei uns bekommen hat. Ich selbst nehme mich von solch problematischen Verhaltensweisen gar nicht aus. Fast jeder verliert einmal die Fassung – das zuzugeben ist schon eine Mutprobe», erzählt Klipstein. Wörner und Heberer begrüßen diesen Mut. Bei aller Sensibilität des Themas war es Klipstein und ihren Mitstreiterinnen wichtig, mit dem Schutzkonzept keinen Verbotskatalog vorzulegen. Denn die Frage «Was dürfen wir denn noch, wenn wir nichts mehr dürfen?» hätten sie auch schon gehört. Kolleg:innen mitnehmen und nicht verprellen – das sei ihnen wichtig gewesen. Ein schmaler Grat, wie auch Wörner und Heberer wissen.
Details machen Unterschied
Damit die 256 Schutzkonzepte in Deutschlands Waldorfschulen ihre volle Wirksamkeit entfalten können, braucht es vielerorts noch Details, auf die man in den Schulen ohne einen professionellen Blick von außen nicht ohne Weiteres kommt. «Eine Vertrauensstelle zu haben, ist gut. Dann muss ich mich aber fragen, was ich dafür tun kann, dass die wirklich als Anlaufpunkt von Schüler:innen wahrgenommen wird. Wer betreut die Stelle? Welches Know-how braucht die Person? Woher bekommt sie das? Wo ist die Stelle lokalisiert? Wie ist sie ausgestattet? An welchen Tagen hat sie geöffnet? Ist es egal, ob es Donnerstag oder Freitag ist oder macht das einen Unterschied? Von solchen Detailfragen wimmelt es eigentlich in jedem Schutzkonzept und sie machen am Ende den Unterschied», ist Heberer überzeugt. Allen vier Frauen, Klipstein, Scholz, Wörner und Heberer, ist klar, dass der Weg hin zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Schule ein langer ist, der kaum eines Tages enden wird. Aber sie alle sind sich einig, jeder einzelne Schritt, den sie vorankommen, ist es wert, ihn dennoch zu gehen.
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